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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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gattung ist, ist bei ihm seinem Bau nach Kuß und Umar-
mung. Kein Thier hat die menschliche Lippe, deren feine
Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am spä-
testen gebildet wird; gleichsam die letzte Bezeichnung des
Fingers der Liebe, daß diese Lippe sich schön und verstandreich
schließen sollte. Von keinem Thier also gilt der schamhafte
Ausdruck der alten Sprache, daß es sein Weib erkenne.
Die alte Fabel sagt, daß beide Geschlechter einst, wie Blu-
men, eine Androgyne gewesen aber getheilt worden; sie woll-
te mit dieser und andern sinnreichen Dichtungen als Fabel
den Vorzug der menschlichen Liebe vor den Thieren verhüllet
sagen. Auch daß der menschliche Trieb nicht wie bei diesen
schlechthin einer Jahrszeit unterworfen ist, (obwohl über die
Revolutionen hiezu im menschlichen Körper noch keine tüch-
tige Betrachtungen angestellet worden) zeigt offenbar, daß
er nicht von der Nothwendigkeit sondern vom Liebreiz abhan-
gen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilli-
gen Mäßigung so überlassen werden sollte, wie alles was der
Mensch um und an sich träget. Auch die Liebe sollte bei dem
Menschen human seyn, dazu bestimmte die Natur, außer sei-
ner Gestalt, auch die spätere Entwicklung, die Dauer und
das Verhältniß des Triebes in beiden Geschlechtern; ja
sie brachte diesen unter das Gesetz eines gemeinschaft-
lichen freiwilligen Bundes
und der freundschaftlichsten

Mit-

gattung iſt, iſt bei ihm ſeinem Bau nach Kuß und Umar-
mung. Kein Thier hat die menſchliche Lippe, deren feine
Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am ſpaͤ-
teſten gebildet wird; gleichſam die letzte Bezeichnung des
Fingers der Liebe, daß dieſe Lippe ſich ſchoͤn und verſtandreich
ſchließen ſollte. Von keinem Thier alſo gilt der ſchamhafte
Ausdruck der alten Sprache, daß es ſein Weib erkenne.
Die alte Fabel ſagt, daß beide Geſchlechter einſt, wie Blu-
men, eine Androgyne geweſen aber getheilt worden; ſie woll-
te mit dieſer und andern ſinnreichen Dichtungen als Fabel
den Vorzug der menſchlichen Liebe vor den Thieren verhuͤllet
ſagen. Auch daß der menſchliche Trieb nicht wie bei dieſen
ſchlechthin einer Jahrszeit unterworfen iſt, (obwohl uͤber die
Revolutionen hiezu im menſchlichen Koͤrper noch keine tuͤch-
tige Betrachtungen angeſtellet worden) zeigt offenbar, daß
er nicht von der Nothwendigkeit ſondern vom Liebreiz abhan-
gen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilli-
gen Maͤßigung ſo uͤberlaſſen werden ſollte, wie alles was der
Menſch um und an ſich traͤget. Auch die Liebe ſollte bei dem
Menſchen human ſeyn, dazu beſtimmte die Natur, außer ſei-
ner Geſtalt, auch die ſpaͤtere Entwicklung, die Dauer und
das Verhaͤltniß des Triebes in beiden Geſchlechtern; ja
ſie brachte dieſen unter das Geſetz eines gemeinſchaft-
lichen freiwilligen Bundes
und der freundſchaftlichſten

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[246[226]/0248] gattung iſt, iſt bei ihm ſeinem Bau nach Kuß und Umar- mung. Kein Thier hat die menſchliche Lippe, deren feine Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am ſpaͤ- teſten gebildet wird; gleichſam die letzte Bezeichnung des Fingers der Liebe, daß dieſe Lippe ſich ſchoͤn und verſtandreich ſchließen ſollte. Von keinem Thier alſo gilt der ſchamhafte Ausdruck der alten Sprache, daß es ſein Weib erkenne. Die alte Fabel ſagt, daß beide Geſchlechter einſt, wie Blu- men, eine Androgyne geweſen aber getheilt worden; ſie woll- te mit dieſer und andern ſinnreichen Dichtungen als Fabel den Vorzug der menſchlichen Liebe vor den Thieren verhuͤllet ſagen. Auch daß der menſchliche Trieb nicht wie bei dieſen ſchlechthin einer Jahrszeit unterworfen iſt, (obwohl uͤber die Revolutionen hiezu im menſchlichen Koͤrper noch keine tuͤch- tige Betrachtungen angeſtellet worden) zeigt offenbar, daß er nicht von der Nothwendigkeit ſondern vom Liebreiz abhan- gen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilli- gen Maͤßigung ſo uͤberlaſſen werden ſollte, wie alles was der Menſch um und an ſich traͤget. Auch die Liebe ſollte bei dem Menſchen human ſeyn, dazu beſtimmte die Natur, außer ſei- ner Geſtalt, auch die ſpaͤtere Entwicklung, die Dauer und das Verhaͤltniß des Triebes in beiden Geſchlechtern; ja ſie brachte dieſen unter das Geſetz eines gemeinſchaft- lichen freiwilligen Bundes und der freundſchaftlichſten Mit-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 246[226]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/248>, abgerufen am 23.11.2024.