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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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Wo aus? wo ein? du wildes Thier!
Alleweil bey der Nacht!
Jch bin ein Jäger, und fang dich schier, u. s. w.
"Bist du ein Jäger, du fängst mich nicht
Alleweil bey der Nacht!
"Mein' hohe Sprüng', die weißt du nicht, u. s. w.
Dein' hohe Sprüng', die weiß ich wohl,
Weiß wohl, wie ich sie dir stellen soll. u. s. w.

Und sehen Sie, plötzlich, ohne alle weitere Vor-
bereitung erhebt sich die Frage:

Was hat sie an ihrem rechten Arm?

und plötzlich, ohne weitere Vorbereitung die
Antwort:

Nun bin ich gefangen, u. s. w.
Was hat sie an ihrem linken Fuß?
"Nun weiß ich, daß ich sterben muß!"

und so gehen die Würfe fort, und doch in einem
so gemeinen, populären Jägerliede! und wer
ists, ders nicht verstünde, der nicht eben daher
auf eine dunkle Weise, das lebendige Poeti-
sche empfände?

Alle alte Lieder sind meine Zeugen! Aus
Lapp- und Esthland, Lettisch und Pohlnisch,
und Schottisch und Deutsch, und die ich nur
kenne, je älter, je volkmäßiger, je lebendiger;
desto kühner, desto werfender. Wenn ihnen
meine Skaldischen, und Lapp-und Schottländi-
schen Lieder nicht genug sind, hören Sie ein-
mal ein Andres, aus den Dodsleischen Re-
liques:
ich wähle ein ganz gemeines, deren

wir
Wo aus? wo ein? du wildes Thier!
Alleweil bey der Nacht!
Jch bin ein Jaͤger, und fang dich ſchier, u. ſ. w.
„Biſt du ein Jaͤger, du faͤngſt mich nicht
Alleweil bey der Nacht!
„Mein’ hohe Spruͤng’, die weißt du nicht, u. ſ. w.
Dein’ hohe Spruͤng’, die weiß ich wohl,
Weiß wohl, wie ich ſie dir ſtellen ſoll. u. ſ. w.

Und ſehen Sie, ploͤtzlich, ohne alle weitere Vor-
bereitung erhebt ſich die Frage:

Was hat ſie an ihrem rechten Arm?

und ploͤtzlich, ohne weitere Vorbereitung die
Antwort:

Nun bin ich gefangen, u. ſ. w.
Was hat ſie an ihrem linken Fuß?
„Nun weiß ich, daß ich ſterben muß!‟

und ſo gehen die Wuͤrfe fort, und doch in einem
ſo gemeinen, populaͤren Jaͤgerliede! und wer
iſts, ders nicht verſtuͤnde, der nicht eben daher
auf eine dunkle Weiſe, das lebendige Poeti-
ſche empfaͤnde?

Alle alte Lieder ſind meine Zeugen! Aus
Lapp- und Eſthland, Lettiſch und Pohlniſch,
und Schottiſch und Deutſch, und die ich nur
kenne, je aͤlter, je volkmaͤßiger, je lebendiger;
deſto kuͤhner, deſto werfender. Wenn ihnen
meine Skaldiſchen, und Lapp-und Schottlaͤndi-
ſchen Lieder nicht genug ſind, hoͤren Sie ein-
mal ein Andres, aus den Dodsleiſchen Re-
liques:
ich waͤhle ein ganz gemeines, deren

wir
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[48/0052] Wo aus? wo ein? du wildes Thier! Alleweil bey der Nacht! Jch bin ein Jaͤger, und fang dich ſchier, u. ſ. w. „Biſt du ein Jaͤger, du faͤngſt mich nicht Alleweil bey der Nacht! „Mein’ hohe Spruͤng’, die weißt du nicht, u. ſ. w. Dein’ hohe Spruͤng’, die weiß ich wohl, Weiß wohl, wie ich ſie dir ſtellen ſoll. u. ſ. w. Und ſehen Sie, ploͤtzlich, ohne alle weitere Vor- bereitung erhebt ſich die Frage: Was hat ſie an ihrem rechten Arm? und ploͤtzlich, ohne weitere Vorbereitung die Antwort: Nun bin ich gefangen, u. ſ. w. Was hat ſie an ihrem linken Fuß? „Nun weiß ich, daß ich ſterben muß!‟ und ſo gehen die Wuͤrfe fort, und doch in einem ſo gemeinen, populaͤren Jaͤgerliede! und wer iſts, ders nicht verſtuͤnde, der nicht eben daher auf eine dunkle Weiſe, das lebendige Poeti- ſche empfaͤnde? Alle alte Lieder ſind meine Zeugen! Aus Lapp- und Eſthland, Lettiſch und Pohlniſch, und Schottiſch und Deutſch, und die ich nur kenne, je aͤlter, je volkmaͤßiger, je lebendiger; deſto kuͤhner, deſto werfender. Wenn ihnen meine Skaldiſchen, und Lapp-und Schottlaͤndi- ſchen Lieder nicht genug ſind, hoͤren Sie ein- mal ein Andres, aus den Dodsleiſchen Re- liques: ich waͤhle ein ganz gemeines, deren wir

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/52>, abgerufen am 08.05.2024.