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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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nore quiritario: haben wir kaum noch Ver-
muthungen, ohnerachtet sie der Geist der deut-
schen Verfassung gewesen, und ewig bleiben
sollen. Religion und Wissenschaften hoben im-
mer mehr den Menschen über den Bürger, die
Rechte der Menschheit siegten über alle bedun-
gene und verglichene Rechte. Eine bequeme
Philosophie unterstützte die Folgerungen aus
allgemeinen Grundsätzen besser, als diejenigen,
welche nicht ohne Gelehrsamkeit und Einsicht
gemacht werden konnten. Und die Menschen-
liebe ward mit Hülfe der christlichen Religion
eine Tugend, gleich der Bürgerliebe, derge-
stalt, daß es wenig fehlte oder die Reichsgesetze
selbst hätten die ehrlosesten Leute, aus christli-
cher Liebe, ehrenhaft und zunftfähig erklärt.

Die Schicksale des Reichsguthes waren
noch sonderbarer. Erst hatte jeder Mansus sei-
nen Eigenthümer zu Felde geschickt; hernach
einen Baner aufgenommen, der den Dienst-
mann ernährte; und zuletzt auch seinen Bauer
unter die Vogelstange gestellet. Jetzt aber
mußte es zu diesen Lasten auch noch einen Söld-
ner stellen, und zu dessen Unterhaltung eine
Landsteuer übernehmen, indem die Territorial-
hoheit zu ihrer Erhaltung stärkere Nerven, und
das Reich zu seiner Vertheidigung grössere An-
stalten erfoderte, nachdem Frankreich sich nicht
wie Deutschland in einer Menge von Territo-

rien

nore quiritario: haben wir kaum noch Ver-
muthungen, ohnerachtet ſie der Geiſt der deut-
ſchen Verfaſſung geweſen, und ewig bleiben
ſollen. Religion und Wiſſenſchaften hoben im-
mer mehr den Menſchen uͤber den Buͤrger, die
Rechte der Menſchheit ſiegten uͤber alle bedun-
gene und verglichene Rechte. Eine bequeme
Philoſophie unterſtuͤtzte die Folgerungen aus
allgemeinen Grundſaͤtzen beſſer, als diejenigen,
welche nicht ohne Gelehrſamkeit und Einſicht
gemacht werden konnten. Und die Menſchen-
liebe ward mit Huͤlfe der chriſtlichen Religion
eine Tugend, gleich der Buͤrgerliebe, derge-
ſtalt, daß es wenig fehlte oder die Reichsgeſetze
ſelbſt haͤtten die ehrloſeſten Leute, aus chriſtli-
cher Liebe, ehrenhaft und zunftfaͤhig erklaͤrt.

Die Schickſale des Reichsguthes waren
noch ſonderbarer. Erſt hatte jeder Manſus ſei-
nen Eigenthuͤmer zu Felde geſchickt; hernach
einen Baner aufgenommen, der den Dienſt-
mann ernaͤhrte; und zuletzt auch ſeinen Bauer
unter die Vogelſtange geſtellet. Jetzt aber
mußte es zu dieſen Laſten auch noch einen Soͤld-
ner ſtellen, und zu deſſen Unterhaltung eine
Landſteuer uͤbernehmen, indem die Territorial-
hoheit zu ihrer Erhaltung ſtaͤrkere Nerven, und
das Reich zu ſeiner Vertheidigung groͤſſere An-
ſtalten erfoderte, nachdem Frankreich ſich nicht
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[178/0182] nore quiritario: haben wir kaum noch Ver- muthungen, ohnerachtet ſie der Geiſt der deut- ſchen Verfaſſung geweſen, und ewig bleiben ſollen. Religion und Wiſſenſchaften hoben im- mer mehr den Menſchen uͤber den Buͤrger, die Rechte der Menſchheit ſiegten uͤber alle bedun- gene und verglichene Rechte. Eine bequeme Philoſophie unterſtuͤtzte die Folgerungen aus allgemeinen Grundſaͤtzen beſſer, als diejenigen, welche nicht ohne Gelehrſamkeit und Einſicht gemacht werden konnten. Und die Menſchen- liebe ward mit Huͤlfe der chriſtlichen Religion eine Tugend, gleich der Buͤrgerliebe, derge- ſtalt, daß es wenig fehlte oder die Reichsgeſetze ſelbſt haͤtten die ehrloſeſten Leute, aus chriſtli- cher Liebe, ehrenhaft und zunftfaͤhig erklaͤrt. Die Schickſale des Reichsguthes waren noch ſonderbarer. Erſt hatte jeder Manſus ſei- nen Eigenthuͤmer zu Felde geſchickt; hernach einen Baner aufgenommen, der den Dienſt- mann ernaͤhrte; und zuletzt auch ſeinen Bauer unter die Vogelſtange geſtellet. Jetzt aber mußte es zu dieſen Laſten auch noch einen Soͤld- ner ſtellen, und zu deſſen Unterhaltung eine Landſteuer uͤbernehmen, indem die Territorial- hoheit zu ihrer Erhaltung ſtaͤrkere Nerven, und das Reich zu ſeiner Vertheidigung groͤſſere An- ſtalten erfoderte, nachdem Frankreich ſich nicht wie Deutſchland in einer Menge von Territo- rien

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/182>, abgerufen am 07.05.2024.