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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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kann der Mensch durch göttlichen Unterricht Spra-
che lernen, wenn er keine Vernunft hat? Und er
hat ja nicht den mindesten Gebrauch der Vernunft
ohne Sprache. Er soll also Sprache haben, ehe
er sie hat und haben kann? Oder vernünftig wer-
den können ohne den mindesten eignen Gebrauch
der Vernunft? Um der ersten Sylbe in göttlichen
Unterricht fähig zu seyn, mußte er ja, wie Hr.
Süßmilch selbst zugiebt, ein Mensch seyn, das ist,
deutlich denken können, und bei dem ersten deut-
lichen Gedanken war schon Sprache in seiner Seele
da; sie war also aus eignen Mitteln und nicht
durch göttlichen Unterricht erfunden. -- -- Jch
weis wohl, was man bei diesem göttlichen Unter-
richt meistens im Sinne hat, nehmlich den Sprach-
unterricht der Eltern an die Kinder; allein man
besinne sich, daß das hier gar nicht der Fall ist.
Eltern lehren die Kinder nie Sprache, ohne daß
diese nicht immer selbst mit erfänden: jene machen
diese nur auf Unterschiede der Sachen, mittelst ge-
wisser Wortzeichen, aufmerksam, und so ersetzen
sie ihnen nicht etwa, sondern erleichtern und be-
fördern
ihnen nur den Gebrauch der Vernunft

durch

kann der Menſch durch goͤttlichen Unterricht Spra-
che lernen, wenn er keine Vernunft hat? Und er
hat ja nicht den mindeſten Gebrauch der Vernunft
ohne Sprache. Er ſoll alſo Sprache haben, ehe
er ſie hat und haben kann? Oder vernuͤnftig wer-
den koͤnnen ohne den mindeſten eignen Gebrauch
der Vernunft? Um der erſten Sylbe in goͤttlichen
Unterricht faͤhig zu ſeyn, mußte er ja, wie Hr.
Suͤßmilch ſelbſt zugiebt, ein Menſch ſeyn, das iſt,
deutlich denken koͤnnen, und bei dem erſten deut-
lichen Gedanken war ſchon Sprache in ſeiner Seele
da; ſie war alſo aus eignen Mitteln und nicht
durch goͤttlichen Unterricht erfunden. — — Jch
weis wohl, was man bei dieſem goͤttlichen Unter-
richt meiſtens im Sinne hat, nehmlich den Sprach-
unterricht der Eltern an die Kinder; allein man
beſinne ſich, daß das hier gar nicht der Fall iſt.
Eltern lehren die Kinder nie Sprache, ohne daß
dieſe nicht immer ſelbſt mit erfaͤnden: jene machen
dieſe nur auf Unterſchiede der Sachen, mittelſt ge-
wiſſer Wortzeichen, aufmerkſam, und ſo erſetzen
ſie ihnen nicht etwa, ſondern erleichtern und be-
foͤrdern
ihnen nur den Gebrauch der Vernunft

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[62/0068] kann der Menſch durch goͤttlichen Unterricht Spra- che lernen, wenn er keine Vernunft hat? Und er hat ja nicht den mindeſten Gebrauch der Vernunft ohne Sprache. Er ſoll alſo Sprache haben, ehe er ſie hat und haben kann? Oder vernuͤnftig wer- den koͤnnen ohne den mindeſten eignen Gebrauch der Vernunft? Um der erſten Sylbe in goͤttlichen Unterricht faͤhig zu ſeyn, mußte er ja, wie Hr. Suͤßmilch ſelbſt zugiebt, ein Menſch ſeyn, das iſt, deutlich denken koͤnnen, und bei dem erſten deut- lichen Gedanken war ſchon Sprache in ſeiner Seele da; ſie war alſo aus eignen Mitteln und nicht durch goͤttlichen Unterricht erfunden. — — Jch weis wohl, was man bei dieſem goͤttlichen Unter- richt meiſtens im Sinne hat, nehmlich den Sprach- unterricht der Eltern an die Kinder; allein man beſinne ſich, daß das hier gar nicht der Fall iſt. Eltern lehren die Kinder nie Sprache, ohne daß dieſe nicht immer ſelbſt mit erfaͤnden: jene machen dieſe nur auf Unterſchiede der Sachen, mittelſt ge- wiſſer Wortzeichen, aufmerkſam, und ſo erſetzen ſie ihnen nicht etwa, ſondern erleichtern und be- foͤrdern ihnen nur den Gebrauch der Vernunft durch

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/68>, abgerufen am 25.11.2024.