theilte Seele. Konnte ein Mensch je eine einzige Handlung thun, bei der er völlig wie ein Thier dachte: so ist er auch durchaus kein Mensch mehr, gar keiner menschlichen Handlung mehr fähig. War er einen einzigen Augenblick ohne Vernunft: so sähe ich nicht, wie er je in seinem Leben mit Vernunft denken könne: oder seine ganze Seele, die ganze Haushaltung seiner Natur ward geändert.
Nach richtigern Begriffen ist die Vernunft- mäßigkeit des Menschen, der Charakter seiner Gattung, etwas anders, nemlich, "die gänzli- "che Bestimmung seiner denkenden Kraft im "Verhältniß seiner Sinnlichkeit und Triebe." Und da konnte es, alle vorigen Analogien zu Hülfe genommen, nichts anders seyn, als daß --
Wenn der Mensch Triebe der Thiere hätte, er das nicht haben könnte, was wir jezt Vernunft in ihm nennen; denn eben diese Triebe rissen ja seine Kräfte so dunkel auf einen Punkt hin, daß ihm kein freier Besinnungskreis ward. Es mußte seyn, daß --
Wenn
theilte Seele. Konnte ein Menſch je eine einzige Handlung thun, bei der er voͤllig wie ein Thier dachte: ſo iſt er auch durchaus kein Menſch mehr, gar keiner menſchlichen Handlung mehr faͤhig. War er einen einzigen Augenblick ohne Vernunft: ſo ſaͤhe ich nicht, wie er je in ſeinem Leben mit Vernunft denken koͤnne: oder ſeine ganze Seele, die ganze Haushaltung ſeiner Natur ward geaͤndert.
Nach richtigern Begriffen iſt die Vernunft- maͤßigkeit des Menſchen, der Charakter ſeiner Gattung, etwas anders, nemlich, „die gaͤnzli- „che Beſtimmung ſeiner denkenden Kraft im „Verhaͤltniß ſeiner Sinnlichkeit und Triebe.„ Und da konnte es, alle vorigen Analogien zu Huͤlfe genommen, nichts anders ſeyn, als daß —
Wenn der Menſch Triebe der Thiere haͤtte, er das nicht haben koͤnnte, was wir jezt Vernunft in ihm nennen; denn eben dieſe Triebe riſſen ja ſeine Kraͤfte ſo dunkel auf einen Punkt hin, daß ihm kein freier Beſinnungskreis ward. Es mußte ſeyn, daß —
Wenn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0051"n="45"/>
theilte Seele. Konnte ein Menſch je eine einzige<lb/>
Handlung thun, bei der er voͤllig wie ein Thier<lb/>
dachte: ſo iſt er auch durchaus kein Menſch mehr,<lb/>
gar keiner menſchlichen Handlung mehr faͤhig.<lb/>
War er einen einzigen Augenblick ohne Vernunft:<lb/>ſo ſaͤhe ich nicht, wie er je in ſeinem Leben<lb/>
mit Vernunft denken koͤnne: oder ſeine ganze<lb/>
Seele, die ganze Haushaltung ſeiner Natur ward<lb/>
geaͤndert.</p><lb/><p>Nach richtigern Begriffen iſt die <hirendition="#fr">Vernunft-<lb/>
maͤßigkeit</hi> des Menſchen, der Charakter ſeiner<lb/>
Gattung, etwas anders, nemlich, „<hirendition="#fr">die gaͤnzli-<lb/>„che Beſtimmung ſeiner denkenden Kraft im<lb/>„Verhaͤltniß ſeiner Sinnlichkeit und Triebe.</hi>„<lb/>
Und da konnte es, alle vorigen Analogien zu Huͤlfe<lb/>
genommen, nichts anders ſeyn, als daß —</p><lb/><p>Wenn der Menſch <hirendition="#fr">Triebe der Thiere haͤtte,</hi><lb/>
er das nicht haben koͤnnte, was wir jezt <hirendition="#fr">Vernunft</hi><lb/>
in ihm nennen; denn eben dieſe Triebe riſſen ja<lb/>ſeine Kraͤfte ſo dunkel auf einen Punkt hin, daß<lb/>
ihm kein freier Beſinnungskreis ward. Es mußte<lb/>ſeyn, daß —</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Wenn</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[45/0051]
theilte Seele. Konnte ein Menſch je eine einzige
Handlung thun, bei der er voͤllig wie ein Thier
dachte: ſo iſt er auch durchaus kein Menſch mehr,
gar keiner menſchlichen Handlung mehr faͤhig.
War er einen einzigen Augenblick ohne Vernunft:
ſo ſaͤhe ich nicht, wie er je in ſeinem Leben
mit Vernunft denken koͤnne: oder ſeine ganze
Seele, die ganze Haushaltung ſeiner Natur ward
geaͤndert.
Nach richtigern Begriffen iſt die Vernunft-
maͤßigkeit des Menſchen, der Charakter ſeiner
Gattung, etwas anders, nemlich, „die gaͤnzli-
„che Beſtimmung ſeiner denkenden Kraft im
„Verhaͤltniß ſeiner Sinnlichkeit und Triebe.„
Und da konnte es, alle vorigen Analogien zu Huͤlfe
genommen, nichts anders ſeyn, als daß —
Wenn der Menſch Triebe der Thiere haͤtte,
er das nicht haben koͤnnte, was wir jezt Vernunft
in ihm nennen; denn eben dieſe Triebe riſſen ja
ſeine Kraͤfte ſo dunkel auf einen Punkt hin, daß
ihm kein freier Beſinnungskreis ward. Es mußte
ſeyn, daß —
Wenn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/51>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.