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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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tern wieder, und schwört mit jedem frühen
Stammlen, nachdem sich seine Zunge und Seele
bildet, diese Gefühle zu verewigen, so wahr er sie
Vater- oder Muttersprache nennet. Lebenslang
werden diese ersten Eindrücke seiner Kindheit,
diese Bilder aus der Seele und dem Herzen seiner
Eltern in ihm leben und würken: mit dem Wort
wird das ganze Gefühl wiederkommen, was da-
mahls frühe seine Seele überströmte: mit der Jdee
des Worts alle Nebenideen, die ihm damals bei
diesem, neuen frühen Morgenausblick in das
Reich der Schöpfung vorlagen -- sie werden wie-
derkommen und mächtiger würken, als die reine,
klare Hauptidee selbst. Das wird also Familien-
denkart,
und mithin Familiensprache. Da
steht nun der kalte Philosoph*) und frägt "durch
"welches Gesetz denn wohl die Menschen ihre
"willkührlich erfundne Sprache einander hätten
"aufdringen, und den andern Theil hätten
"veranlassen können, das Gesetz anzunehmen?"
Diese Frage, über die Rousseau so pathetisch,
und ein andrer Schriftsteller so lange predigt, be-

ant-
*) Rousseau.
M

tern wieder, und ſchwoͤrt mit jedem fruͤhen
Stammlen, nachdem ſich ſeine Zunge und Seele
bildet, dieſe Gefuͤhle zu verewigen, ſo wahr er ſie
Vater- oder Mutterſprache nennet. Lebenslang
werden dieſe erſten Eindruͤcke ſeiner Kindheit,
dieſe Bilder aus der Seele und dem Herzen ſeiner
Eltern in ihm leben und wuͤrken: mit dem Wort
wird das ganze Gefuͤhl wiederkommen, was da-
mahls fruͤhe ſeine Seele uͤberſtroͤmte: mit der Jdee
des Worts alle Nebenideen, die ihm damals bei
dieſem, neuen fruͤhen Morgenausblick in das
Reich der Schoͤpfung vorlagen — ſie werden wie-
derkommen und maͤchtiger wuͤrken, als die reine,
klare Hauptidee ſelbſt. Das wird alſo Familien-
denkart,
und mithin Familienſprache. Da
ſteht nun der kalte Philoſoph*) und fraͤgt „durch
„welches Geſetz denn wohl die Menſchen ihre
„willkuͤhrlich erfundne Sprache einander haͤtten
„aufdringen, und den andern Theil haͤtten
„veranlaſſen koͤnnen, das Geſetz anzunehmen?„
Dieſe Frage, uͤber die Rouſſeau ſo pathetiſch,
und ein andrer Schriftſteller ſo lange predigt, be-

ant-
*) Rouſſeau.
M
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[177/0183] tern wieder, und ſchwoͤrt mit jedem fruͤhen Stammlen, nachdem ſich ſeine Zunge und Seele bildet, dieſe Gefuͤhle zu verewigen, ſo wahr er ſie Vater- oder Mutterſprache nennet. Lebenslang werden dieſe erſten Eindruͤcke ſeiner Kindheit, dieſe Bilder aus der Seele und dem Herzen ſeiner Eltern in ihm leben und wuͤrken: mit dem Wort wird das ganze Gefuͤhl wiederkommen, was da- mahls fruͤhe ſeine Seele uͤberſtroͤmte: mit der Jdee des Worts alle Nebenideen, die ihm damals bei dieſem, neuen fruͤhen Morgenausblick in das Reich der Schoͤpfung vorlagen — ſie werden wie- derkommen und maͤchtiger wuͤrken, als die reine, klare Hauptidee ſelbſt. Das wird alſo Familien- denkart, und mithin Familienſprache. Da ſteht nun der kalte Philoſoph *) und fraͤgt „durch „welches Geſetz denn wohl die Menſchen ihre „willkuͤhrlich erfundne Sprache einander haͤtten „aufdringen, und den andern Theil haͤtten „veranlaſſen koͤnnen, das Geſetz anzunehmen?„ Dieſe Frage, uͤber die Rouſſeau ſo pathetiſch, und ein andrer Schriftſteller ſo lange predigt, be- ant- *) Rouſſeau. M

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/183>, abgerufen am 25.11.2024.