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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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"Besonnenheit in ihm Sprachmäßig: seine
"Kette von Gedanken wird eine Kette von
"Worten.
"

Will ich damit sagen, daß der Mensch jede
Empfindung seines dunkelsten Gefühls zu einem
Worte machen? oder sie nicht anders, als mit-
telst eines Worts empfinden könne? Unsinn wäre
es, dies zu sagen, da gerade umgekehrt bewiesen
ist: "was sich blos durchs dunkle Gefühl empfin-
"den läßt, ist keines Worts für uns fähig, weil
"es keines deutlichen Merkmals fähig ist." Die
Basis der Menschheit ist also, wenn wir von will-
kührlicher Sprache reden, unaussprechlich. -- --
Aber ist denn Basis die ganze Figur? Fußgestelle
die ganze Bildsäule? Jst der Mensch seiner gan-
zen Natur nach, denn eine blos dunkel fühlen-
de Auster?
Lasset uns also den ganzen Faden
seiner Gedanken nehmen -- da er von Besonnen-
heit
gewebt ist: da sich in ihm kein Zustand fin-
det, der im Ganzen genommen, nicht selbst Be-
sinnung
sei, oder doch in Besinnung aufgeklärt
werden könne: da bei ihm das Gefühl nicht herr-
schet,
sondern die ganze Mitte seiner Natur auf

feinere
K 5

Beſonnenheit in ihm Sprachmaͤßig: ſeine
„Kette von Gedanken wird eine Kette von
„Worten.

Will ich damit ſagen, daß der Menſch jede
Empfindung ſeines dunkelſten Gefuͤhls zu einem
Worte machen? oder ſie nicht anders, als mit-
telſt eines Worts empfinden koͤnne? Unſinn waͤre
es, dies zu ſagen, da gerade umgekehrt bewieſen
iſt: „was ſich blos durchs dunkle Gefuͤhl empfin-
„den laͤßt, iſt keines Worts fuͤr uns faͤhig, weil
„es keines deutlichen Merkmals faͤhig iſt.„ Die
Baſis der Menſchheit iſt alſo, wenn wir von will-
kuͤhrlicher Sprache reden, unausſprechlich. — —
Aber iſt denn Baſis die ganze Figur? Fußgeſtelle
die ganze Bildſaͤule? Jſt der Menſch ſeiner gan-
zen Natur nach, denn eine blos dunkel fuͤhlen-
de Auſter?
Laſſet uns alſo den ganzen Faden
ſeiner Gedanken nehmen — da er von Beſonnen-
heit
gewebt iſt: da ſich in ihm kein Zuſtand fin-
det, der im Ganzen genommen, nicht ſelbſt Be-
ſinnung
ſei, oder doch in Beſinnung aufgeklaͤrt
werden koͤnne: da bei ihm das Gefuͤhl nicht herr-
ſchet,
ſondern die ganze Mitte ſeiner Natur auf

feinere
K 5
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[153/0159] „Beſonnenheit in ihm Sprachmaͤßig: ſeine „Kette von Gedanken wird eine Kette von „Worten.„ Will ich damit ſagen, daß der Menſch jede Empfindung ſeines dunkelſten Gefuͤhls zu einem Worte machen? oder ſie nicht anders, als mit- telſt eines Worts empfinden koͤnne? Unſinn waͤre es, dies zu ſagen, da gerade umgekehrt bewieſen iſt: „was ſich blos durchs dunkle Gefuͤhl empfin- „den laͤßt, iſt keines Worts fuͤr uns faͤhig, weil „es keines deutlichen Merkmals faͤhig iſt.„ Die Baſis der Menſchheit iſt alſo, wenn wir von will- kuͤhrlicher Sprache reden, unausſprechlich. — — Aber iſt denn Baſis die ganze Figur? Fußgeſtelle die ganze Bildſaͤule? Jſt der Menſch ſeiner gan- zen Natur nach, denn eine blos dunkel fuͤhlen- de Auſter? Laſſet uns alſo den ganzen Faden ſeiner Gedanken nehmen — da er von Beſonnen- heit gewebt iſt: da ſich in ihm kein Zuſtand fin- det, der im Ganzen genommen, nicht ſelbſt Be- ſinnung ſei, oder doch in Beſinnung aufgeklaͤrt werden koͤnne: da bei ihm das Gefuͤhl nicht herr- ſchet, ſondern die ganze Mitte ſeiner Natur auf feinere K 5

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/159>, abgerufen am 22.11.2024.