Worte zu finden es so vielfältig thun mußte: so wurden "in allen alten Sprachen viel Praeterita, "aber nur ein oder kein Praesens." Dessen hatte sich nun in den gebildetern Zeiten Dichtkunst und Geschichte sehr; die Philosophie aber sehr wenig zu erfreuen, weil die keinen verwirrenden Vorrath liebt -- Hier sind wieder Huronen, Brasilianer, Morgenländer, und Griechen gleich: überall Spuren vom Gange des menschlichen Geistes!
4) Alle neuere philosophische Sprachen haben das Nomenfeiner, das Verbumweniger, aber re- gelmäßiger modificirt; denn die Sprache erwuchs mehr "zur kalten Beschauung dessen, was da ist, "und was gewesen ist, als daß sie noch ein unre- "gelmäßig stammelndes Gemisch von dem, was "etwa gewesen ist, geblieben wäre." Jenes ge- wöhnte man sich nach einander zu sagen, und also durch Numeros und Artikel und Casus u. s. w. zu bestimmen; die alten Erfinder wollten Al- "les auf Einmal sagen*) nicht blos, was ge- "than wäre, sondern wer es gethan? Wenn?
Wie?
*) Rousseau hat diesen Satz in seiner Hypothese divinirt, den ich hier bestimme und beweise.
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Worte zu finden es ſo vielfaͤltig thun mußte: ſo wurden „in allen alten Sprachen viel Praeterita, „aber nur ein oder kein Praeſens.„ Deſſen hatte ſich nun in den gebildetern Zeiten Dichtkunſt und Geſchichte ſehr; die Philoſophie aber ſehr wenig zu erfreuen, weil die keinen verwirrenden Vorrath liebt — Hier ſind wieder Huronen, Braſilianer, Morgenlaͤnder, und Griechen gleich: uͤberall Spuren vom Gange des menſchlichen Geiſtes!
4) Alle neuere philoſophiſche Sprachen haben das Nomenfeiner, das Verbumweniger, aber re- gelmaͤßiger modificirt; denn die Sprache erwuchs mehr „zur kalten Beſchauung deſſen, was da iſt, „und was geweſen iſt, als daß ſie noch ein unre- „gelmaͤßig ſtammelndes Gemiſch von dem, was „etwa geweſen iſt, geblieben waͤre.„ Jenes ge- woͤhnte man ſich nach einander zu ſagen, und alſo durch Numeros und Artikel und Caſus u. ſ. w. zu beſtimmen; die alten Erfinder wollten Al- „les auf Einmal ſagen*) nicht blos, was ge- „than waͤre, ſondern wer es gethan? Wenn?
Wie?
*) Rouſſeau hat dieſen Satz in ſeiner Hypotheſe divinirt, den ich hier beſtimme und beweiſe.
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Worte zu finden es ſo vielfaͤltig thun mußte: ſo
wurden „in allen alten Sprachen viel Praeterita,
„aber nur ein oder kein Praeſens.„ Deſſen hatte
ſich nun in den gebildetern Zeiten Dichtkunſt und
Geſchichte ſehr; die Philoſophie aber ſehr wenig
zu erfreuen, weil die keinen verwirrenden Vorrath
liebt — Hier ſind wieder Huronen, Braſilianer,
Morgenlaͤnder, und Griechen gleich: uͤberall
Spuren vom Gange des menſchlichen Geiſtes!
4) Alle neuere philoſophiſche Sprachen haben
das Nomen feiner, das Verbum weniger, aber re-
gelmaͤßiger modificirt; denn die Sprache erwuchs
mehr „zur kalten Beſchauung deſſen, was da iſt,
„und was geweſen iſt, als daß ſie noch ein unre-
„gelmaͤßig ſtammelndes Gemiſch von dem, was
„etwa geweſen iſt, geblieben waͤre.„ Jenes ge-
woͤhnte man ſich nach einander zu ſagen, und
alſo durch Numeros und Artikel und Caſus u. ſ. w.
zu beſtimmen; die alten Erfinder wollten Al-
„les auf Einmal ſagen *) nicht blos, was ge-
„than waͤre, ſondern wer es gethan? Wenn?
Wie?
*) Rouſſeau hat dieſen Satz in ſeiner Hypotheſe divinirt,
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/139>, abgerufen am 11.02.2025.
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