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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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"Wie? und wo es geschehen? Sie brachten also
"in die Nomina gleich den Zustand: in jede Per-
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des Verbi gleich das Genus: sie unterschieden
"gleich durch prae- und afformativa, durch af- und
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desto mehr wurde unterschieden und hergezählt:
aus den Hauchen wurden Artikel, aus den An-
sätzen Personen, aus den Vorsätzen Modi oder
Adverbia: die Theile der Rede flossen aus einan-
der: nun ward allmählig Grammatik. So ist
diese Kunst zu reden, diese Philosophie über die
Sprache erst langsam und Schritt vor Schritt, Jahr-
hunderte und Zeiten hinab gebildet, und der erste
Kopf, der an "eine wahre Philosophie der
"Grammatik,
an die Kunst zu reden!" denkt,
muß gewiß erst "die Geschichte derselben durch
Völker und Stuffen hinab"
überdacht haben.
Hätten wir doch eine solche Geschichte! sie wäre
mit allen Fortgängen und Abweichungen eine Charte
von der Menschlichkeit der Sprache.

5) Aber wie hat eine Sprache ganz ohne
Grammatik bestehen können? Ein bloßer Zusam-

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„Wie? und wo es geſchehen? Sie brachten alſo
„in die Nomina gleich den Zuſtand: in jede Per-
„ſon
des Verbi gleich das Genus: ſie unterſchieden
„gleich durch prae- und afformativa, durch af- und
„ſuffixa: Verbum und Adverbium, Verbum und
„Nomen und alles floß zuſammen.„ Je ſpaͤter,
deſto mehr wurde unterſchieden und hergezaͤhlt:
aus den Hauchen wurden Artikel, aus den An-
ſaͤtzen Perſonen, aus den Vorſaͤtzen Modi oder
Adverbia: die Theile der Rede floſſen aus einan-
der: nun ward allmaͤhlig Grammatik. So iſt
dieſe Kunſt zu reden, dieſe Philoſophie uͤber die
Sprache erſt langſam und Schritt vor Schritt, Jahr-
hunderte und Zeiten hinab gebildet, und der erſte
Kopf, der an „eine wahre Philoſophie der
„Grammatik,
an die Kunſt zu reden!„ denkt,
muß gewiß erſt „die Geſchichte derſelben durch
Voͤlker und Stuffen hinab„
uͤberdacht haben.
Haͤtten wir doch eine ſolche Geſchichte! ſie waͤre
mit allen Fortgaͤngen und Abweichungen eine Charte
von der Menſchlichkeit der Sprache.

5) Aber wie hat eine Sprache ganz ohne
Grammatik beſtehen koͤnnen? Ein bloßer Zuſam-

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[134/0140] „Wie? und wo es geſchehen? Sie brachten alſo „in die Nomina gleich den Zuſtand: in jede Per- „ſon des Verbi gleich das Genus: ſie unterſchieden „gleich durch prae- und afformativa, durch af- und „ſuffixa: Verbum und Adverbium, Verbum und „Nomen und alles floß zuſammen.„ Je ſpaͤter, deſto mehr wurde unterſchieden und hergezaͤhlt: aus den Hauchen wurden Artikel, aus den An- ſaͤtzen Perſonen, aus den Vorſaͤtzen Modi oder Adverbia: die Theile der Rede floſſen aus einan- der: nun ward allmaͤhlig Grammatik. So iſt dieſe Kunſt zu reden, dieſe Philoſophie uͤber die Sprache erſt langſam und Schritt vor Schritt, Jahr- hunderte und Zeiten hinab gebildet, und der erſte Kopf, der an „eine wahre Philoſophie der „Grammatik, an die Kunſt zu reden!„ denkt, muß gewiß erſt „die Geſchichte derſelben durch Voͤlker und Stuffen hinab„ uͤberdacht haben. Haͤtten wir doch eine ſolche Geſchichte! ſie waͤre mit allen Fortgaͤngen und Abweichungen eine Charte von der Menſchlichkeit der Sprache. 5) Aber wie hat eine Sprache ganz ohne Grammatik beſtehen koͤnnen? Ein bloßer Zuſam- men-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/140>, abgerufen am 04.05.2024.