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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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IV. "So wie die menschliche Seele sich keiner
"Abstraktion aus dem Reiche der Geister
"erinnern kann, zu der sie nicht durch Ge-
"legenheiten und Erweckungen der Sinne
"gelangte: so hat auch keine Sprache ein
"Abstraktum, zu dem sie nicht durch Ton
"und Gefühl gelangt wäre. Und je ur-
"sprünglicher die Sprache, desto weniger Ab-
"straktionen, desto mehr Gefühle." Jch
kann in diesem unermeßlichen Felde wieder
nur Blumen brechen:

Der ganze Bau der morgenländischen Spra-
chen zeuget, daß alle ihre Abstrakta voraus Sinn-
lichkeiten gewesen: Der Geist war Wind, Hauch,
Nachtsturm! Heilig
hieß abgesondert, ein-
sam:
die Seele hieß der Othem: der Zorn das
Schnauben der Nase u. s. w. Die allgemeinern
Begriffe wurden ihr also erst später durch Abstrak-
tion, Witz, Phantasie, Gleichniß, Analogie u. s. w.
angebildet -- im tiefsten Abgrunde der Sprache
liegt keine Einzige!

Bei allen Wilden findet dasselbe nach Maaß
der Cultur statt. Jn der Sprache von Baran-

tola
IV. „So wie die menſchliche Seele ſich keiner
„Abſtraktion aus dem Reiche der Geiſter
„erinnern kann, zu der ſie nicht durch Ge-
„legenheiten und Erweckungen der Sinne
„gelangte: ſo hat auch keine Sprache ein
„Abſtraktum, zu dem ſie nicht durch Ton
„und Gefuͤhl gelangt waͤre. Und je ur-
„ſpruͤnglicher die Sprache, deſto weniger Ab-
„ſtraktionen, deſto mehr Gefuͤhle.„ Jch
kann in dieſem unermeßlichen Felde wieder
nur Blumen brechen:

Der ganze Bau der morgenlaͤndiſchen Spra-
chen zeuget, daß alle ihre Abſtrakta voraus Sinn-
lichkeiten geweſen: Der Geiſt war Wind, Hauch,
Nachtſturm! Heilig
hieß abgeſondert, ein-
ſam:
die Seele hieß der Othem: der Zorn das
Schnauben der Naſe u. ſ. w. Die allgemeinern
Begriffe wurden ihr alſo erſt ſpaͤter durch Abſtrak-
tion, Witz, Phantaſie, Gleichniß, Analogie u. ſ. w.
angebildet — im tiefſten Abgrunde der Sprache
liegt keine Einzige!

Bei allen Wilden findet daſſelbe nach Maaß
der Cultur ſtatt. Jn der Sprache von Baran-

tola
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[122/0128] IV. „So wie die menſchliche Seele ſich keiner „Abſtraktion aus dem Reiche der Geiſter „erinnern kann, zu der ſie nicht durch Ge- „legenheiten und Erweckungen der Sinne „gelangte: ſo hat auch keine Sprache ein „Abſtraktum, zu dem ſie nicht durch Ton „und Gefuͤhl gelangt waͤre. Und je ur- „ſpruͤnglicher die Sprache, deſto weniger Ab- „ſtraktionen, deſto mehr Gefuͤhle.„ Jch kann in dieſem unermeßlichen Felde wieder nur Blumen brechen: Der ganze Bau der morgenlaͤndiſchen Spra- chen zeuget, daß alle ihre Abſtrakta voraus Sinn- lichkeiten geweſen: Der Geiſt war Wind, Hauch, Nachtſturm! Heilig hieß abgeſondert, ein- ſam: die Seele hieß der Othem: der Zorn das Schnauben der Naſe u. ſ. w. Die allgemeinern Begriffe wurden ihr alſo erſt ſpaͤter durch Abſtrak- tion, Witz, Phantaſie, Gleichniß, Analogie u. ſ. w. angebildet — im tiefſten Abgrunde der Sprache liegt keine Einzige! Bei allen Wilden findet daſſelbe nach Maaß der Cultur ſtatt. Jn der Sprache von Baran- tola

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/128>, abgerufen am 04.05.2024.