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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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Menschlich erklärt sich die Sache von selbst.
So uneigentlich schwere, seltne Jdeen ausgedrükt
werden mußten: so häufig konntens die vorlie-
genden
und leichten. Je unbekannter man
mit der Natur war; von je mehrern Seiten man
sie aus Unerfahrenheit ansehen und kaum wieder
erkennen konnte; je weniger man a priori son-
dern nach sinnlichen Umständen erfand: desto
mehr Synonyme! Je Mehrere erfanden, je
umherirrender und abgetrennter sie erfanden,
und doch nur meistens in Einem Kreise für Ei-
nerlei
Sachen erfanden; wenn sie nachher zusam-
men kamen, wenn ihre Sprachen in einen Ocean
von Wörterbuch flossen: desto mehr Synonyme!
Verworfen konnten alle nicht werden; denn welche
solltens? sie waren bei diesem Stamm, bei dieser
Familie, bei diesem Dichter bräuchlich; es ward
also, wie jener Arabische Wörterbuchschreiber sagt,
da er 400 Wörter von Elend aufgezählt hatte, das
vierhundertste Elend, die Wörter des Elends auf-
zählen zu müssen. Eine solche Sprache ist reich,
weil sie arm ist, weil ihre Erfinder noch nicht Plan
gnug hatten, arm zu werden -- und der müs-

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Menſchlich erklaͤrt ſich die Sache von ſelbſt.
So uneigentlich ſchwere, ſeltne Jdeen ausgedruͤkt
werden mußten: ſo haͤufig konntens die vorlie-
genden
und leichten. Je unbekannter man
mit der Natur war; von je mehrern Seiten man
ſie aus Unerfahrenheit anſehen und kaum wieder
erkennen konnte; je weniger man a priori ſon-
dern nach ſinnlichen Umſtaͤnden erfand: deſto
mehr Synonyme! Je Mehrere erfanden, je
umherirrender und abgetrennter ſie erfanden,
und doch nur meiſtens in Einem Kreiſe fuͤr Ei-
nerlei
Sachen erfanden; wenn ſie nachher zuſam-
men kamen, wenn ihre Sprachen in einen Ocean
von Woͤrterbuch floſſen: deſto mehr Synonyme!
Verworfen konnten alle nicht werden; denn welche
ſolltens? ſie waren bei dieſem Stamm, bei dieſer
Familie, bei dieſem Dichter braͤuchlich; es ward
alſo, wie jener Arabiſche Woͤrterbuchſchreiber ſagt,
da er 400 Woͤrter von Elend aufgezaͤhlt hatte, das
vierhundertſte Elend, die Woͤrter des Elends auf-
zaͤhlen zu muͤſſen. Eine ſolche Sprache iſt reich,
weil ſie arm iſt, weil ihre Erfinder noch nicht Plan
gnug hatten, arm zu werden — und der muͤſ-

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[119/0125] Menſchlich erklaͤrt ſich die Sache von ſelbſt. So uneigentlich ſchwere, ſeltne Jdeen ausgedruͤkt werden mußten: ſo haͤufig konntens die vorlie- genden und leichten. Je unbekannter man mit der Natur war; von je mehrern Seiten man ſie aus Unerfahrenheit anſehen und kaum wieder erkennen konnte; je weniger man a priori ſon- dern nach ſinnlichen Umſtaͤnden erfand: deſto mehr Synonyme! Je Mehrere erfanden, je umherirrender und abgetrennter ſie erfanden, und doch nur meiſtens in Einem Kreiſe fuͤr Ei- nerlei Sachen erfanden; wenn ſie nachher zuſam- men kamen, wenn ihre Sprachen in einen Ocean von Woͤrterbuch floſſen: deſto mehr Synonyme! Verworfen konnten alle nicht werden; denn welche ſolltens? ſie waren bei dieſem Stamm, bei dieſer Familie, bei dieſem Dichter braͤuchlich; es ward alſo, wie jener Arabiſche Woͤrterbuchſchreiber ſagt, da er 400 Woͤrter von Elend aufgezaͤhlt hatte, das vierhundertſte Elend, die Woͤrter des Elends auf- zaͤhlen zu muͤſſen. Eine ſolche Sprache iſt reich, weil ſie arm iſt, weil ihre Erfinder noch nicht Plan gnug hatten, arm zu werden — und der muͤſ- ſige H 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/125>, abgerufen am 04.05.2024.