gen, die, gereizt und ermuntert, wieder andre gleich zart gebaute Geschöpfe wecken, und wie durch eine unsichtbare Kette, einem entfernten Her- zen Funken mittheilen können, für dies ungesehene Geschöpf zu fühlen -- Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache. Es giebt also eine Spra- che der Empfindung, die unmittelbares Na- turgesetz ist.
Daß der Mensch sie ursprünglich mit den Thieren gemein habe, bezeugen jezt freilich mehr gewisse Reste, als volle Ausbrüche; allein auch diese Reste sind unwiedersprechlich. -- Unsre künstliche Sprache mag die Sprache der Natur so verdränget, unsre bürgerliche Lebensart und gesell- schaftliche Artigkeit mag die Fluth und das Meer der Leidenschaften so gedämmet, ausgetroknet und abgeleitet haben, als man will; der heftigste Au- genblick der Empfindung, wo? und wie selten er sich finde? nimmt noch immer sein Recht wieder, und tönt in seiner mütterlichen Sprache unmittel- bar durch Accente. Der auffahrende Sturm einer Leidenschaft, der plözliche Ueberfall von Freude oder Frohheit; Schmerz und Jammer, wenn sie tiefe
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gen, die, gereizt und ermuntert, wieder andre gleich zart gebaute Geſchoͤpfe wecken, und wie durch eine unſichtbare Kette, einem entfernten Her- zen Funken mittheilen koͤnnen, fuͤr dies ungeſehene Geſchoͤpf zu fuͤhlen — Dieſe Seufzer, dieſe Toͤne ſind Sprache. Es giebt alſo eine Spra- che der Empfindung, die unmittelbares Na- turgeſetz iſt.
Daß der Menſch ſie urſpruͤnglich mit den Thieren gemein habe, bezeugen jezt freilich mehr gewiſſe Reſte, als volle Ausbruͤche; allein auch dieſe Reſte ſind unwiederſprechlich. — Unſre kuͤnſtliche Sprache mag die Sprache der Natur ſo verdraͤnget, unſre buͤrgerliche Lebensart und geſell- ſchaftliche Artigkeit mag die Fluth und das Meer der Leidenſchaften ſo gedaͤmmet, ausgetroknet und abgeleitet haben, als man will; der heftigſte Au- genblick der Empfindung, wo? und wie ſelten er ſich finde? nimmt noch immer ſein Recht wieder, und toͤnt in ſeiner muͤtterlichen Sprache unmittel- bar durch Accente. Der auffahrende Sturm einer Leidenſchaft, der ploͤzliche Ueberfall von Freude oder Frohheit; Schmerz und Jammer, wenn ſie tiefe
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[6/0012]
gen, die, gereizt und ermuntert, wieder andre
gleich zart gebaute Geſchoͤpfe wecken, und wie
durch eine unſichtbare Kette, einem entfernten Her-
zen Funken mittheilen koͤnnen, fuͤr dies ungeſehene
Geſchoͤpf zu fuͤhlen — Dieſe Seufzer, dieſe
Toͤne ſind Sprache. Es giebt alſo eine Spra-
che der Empfindung, die unmittelbares Na-
turgeſetz iſt.
Daß der Menſch ſie urſpruͤnglich mit den
Thieren gemein habe, bezeugen jezt freilich
mehr gewiſſe Reſte, als volle Ausbruͤche; allein
auch dieſe Reſte ſind unwiederſprechlich. — Unſre
kuͤnſtliche Sprache mag die Sprache der Natur ſo
verdraͤnget, unſre buͤrgerliche Lebensart und geſell-
ſchaftliche Artigkeit mag die Fluth und das Meer
der Leidenſchaften ſo gedaͤmmet, ausgetroknet und
abgeleitet haben, als man will; der heftigſte Au-
genblick der Empfindung, wo? und wie ſelten er
ſich finde? nimmt noch immer ſein Recht wieder,
und toͤnt in ſeiner muͤtterlichen Sprache unmittel-
bar durch Accente. Der auffahrende Sturm einer
Leidenſchaft, der ploͤzliche Ueberfall von Freude oder
Frohheit; Schmerz und Jammer, wenn ſie tiefe
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/12>, abgerufen am 16.02.2025.
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