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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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aus dem Grunde der Seele steigen, und wenig in
Regeln gefasset werden können! Jhre Verwand-
schaften sind ferner so National, so sehr nach der
eignen Denk- und Sehart des Volks, des Erfin-
ders, in dem Lande, in der Zeit, in den Umstän-
den, daß sie von einem Nord- und Abendländer
unendlich schwer zu treffen sind, und in lan-
gen, kalten Umschreibungen unendlich leiden müs-
sen. Da sie ferner von der Noth erzwungen,
und im Affekt, im Gefühl, in der Verlegenheit
des Ausdruks erfunden wurden -- welch ein
Glück gehört dazu, dasselbe Gefühl zu treffen?
Und endlich da im Wörterbuche von der Art die
Wörter, und die Bedeutungen eines Worts aus
so verschiednen Zeiten, Anlässen und Denkarten
gesammlet werden sollen, und sich also diese augen-
blikliche Bestimmungen ins Unendliche vermeh-
ren -- wie vervielfältigt sich da die Mühe! welch
ein Scharfsinn in diese Umstände und Bedürfnisse
einzudringen, und welche Mäßigung, bei den Aus-
legungen verschiedner Zeiten darinn Maaß zu hal-
ten! welche Känntniß und Biegsamkeit der Seele
gehört dazu, sich so ganz diesen rohen Witz, diese

kühne
H

aus dem Grunde der Seele ſteigen, und wenig in
Regeln gefaſſet werden koͤnnen! Jhre Verwand-
ſchaften ſind ferner ſo National, ſo ſehr nach der
eignen Denk- und Sehart des Volks, des Erfin-
ders, in dem Lande, in der Zeit, in den Umſtaͤn-
den, daß ſie von einem Nord- und Abendlaͤnder
unendlich ſchwer zu treffen ſind, und in lan-
gen, kalten Umſchreibungen unendlich leiden muͤſ-
ſen. Da ſie ferner von der Noth erzwungen,
und im Affekt, im Gefuͤhl, in der Verlegenheit
des Ausdruks erfunden wurden — welch ein
Gluͤck gehoͤrt dazu, daſſelbe Gefuͤhl zu treffen?
Und endlich da im Woͤrterbuche von der Art die
Woͤrter, und die Bedeutungen eines Worts aus
ſo verſchiednen Zeiten, Anlaͤſſen und Denkarten
geſammlet werden ſollen, und ſich alſo dieſe augen-
blikliche Beſtimmungen ins Unendliche vermeh-
ren — wie vervielfaͤltigt ſich da die Muͤhe! welch
ein Scharfſinn in dieſe Umſtaͤnde und Beduͤrfniſſe
einzudringen, und welche Maͤßigung, bei den Aus-
legungen verſchiedner Zeiten darinn Maaß zu hal-
ten! welche Kaͤnntniß und Biegſamkeit der Seele
gehoͤrt dazu, ſich ſo ganz dieſen rohen Witz, dieſe

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[113/0119] aus dem Grunde der Seele ſteigen, und wenig in Regeln gefaſſet werden koͤnnen! Jhre Verwand- ſchaften ſind ferner ſo National, ſo ſehr nach der eignen Denk- und Sehart des Volks, des Erfin- ders, in dem Lande, in der Zeit, in den Umſtaͤn- den, daß ſie von einem Nord- und Abendlaͤnder unendlich ſchwer zu treffen ſind, und in lan- gen, kalten Umſchreibungen unendlich leiden muͤſ- ſen. Da ſie ferner von der Noth erzwungen, und im Affekt, im Gefuͤhl, in der Verlegenheit des Ausdruks erfunden wurden — welch ein Gluͤck gehoͤrt dazu, daſſelbe Gefuͤhl zu treffen? Und endlich da im Woͤrterbuche von der Art die Woͤrter, und die Bedeutungen eines Worts aus ſo verſchiednen Zeiten, Anlaͤſſen und Denkarten geſammlet werden ſollen, und ſich alſo dieſe augen- blikliche Beſtimmungen ins Unendliche vermeh- ren — wie vervielfaͤltigt ſich da die Muͤhe! welch ein Scharfſinn in dieſe Umſtaͤnde und Beduͤrfniſſe einzudringen, und welche Maͤßigung, bei den Aus- legungen verſchiedner Zeiten darinn Maaß zu hal- ten! welche Kaͤnntniß und Biegſamkeit der Seele gehoͤrt dazu, ſich ſo ganz dieſen rohen Witz, dieſe kuͤhne H

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/119>, abgerufen am 04.05.2024.