Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber
er muss doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh-
men wolle. Er muss einen Plan mitbringen; und er
muss verstehen, zu beobachten. Nun hängt zwar der
pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung
des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen
Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur
in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur
Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi-
schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See-
lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre
Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen
Breite aus einander fliessen; so dass nach allen Einzelnhei-
ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des
ganzen Geschäfts vermisst wird. Es kann nicht anders
seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein
Aggregat von Seelenvermögen, so muss die Lehre von
der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich-
ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath-
schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet,
eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen,
und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit
einiger Zuversicht lehnen könnte.

Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von
wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist
der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei-
nen psychologischen Bedingungen erwogen
. Die
Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie-
mals kommen, ausser in wiefern der sittliche Charak-
ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge-
prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist
wie die andern alle. Daher muss man sich die Betrach-
tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht
erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr
allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn
dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr-
zahl der Menschen, dass gewisse Hauptbestrebungen sich

überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber
er muſs doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh-
men wolle. Er muſs einen Plan mitbringen; und er
muſs verstehen, zu beobachten. Nun hängt zwar der
pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung
des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen
Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur
in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur
Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi-
schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See-
lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre
Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen
Breite aus einander flieſsen; so daſs nach allen Einzelnhei-
ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des
ganzen Geschäfts vermiſst wird. Es kann nicht anders
seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein
Aggregat von Seelenvermögen, so muſs die Lehre von
der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich-
ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath-
schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet,
eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen,
und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit
einiger Zuversicht lehnen könnte.

Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von
wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist
der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei-
nen psychologischen Bedingungen erwogen
. Die
Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie-
mals kommen, auſser in wiefern der sittliche Charak-
ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge-
prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist
wie die andern alle. Daher muſs man sich die Betrach-
tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht
erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr
allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn
dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr-
zahl der Menschen, daſs gewisse Hauptbestrebungen sich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0569" n="534"/>
überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber<lb/>
er mu&#x017F;s doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh-<lb/>
men wolle. Er mu&#x017F;s einen Plan <hi rendition="#g">mitbringen</hi>; und er<lb/>
mu&#x017F;s <hi rendition="#g">verstehen</hi>, zu beobachten. Nun hängt zwar der<lb/>
pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung<lb/>
des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen<lb/>
Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur<lb/>
in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur<lb/>
Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi-<lb/>
schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See-<lb/>
lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre<lb/>
Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen<lb/>
Breite aus einander flie&#x017F;sen; so da&#x017F;s nach allen Einzelnhei-<lb/>
ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des<lb/>
ganzen Geschäfts vermi&#x017F;st wird. Es kann nicht anders<lb/>
seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein<lb/>
Aggregat von Seelenvermögen, so mu&#x017F;s die Lehre von<lb/>
der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich-<lb/>
ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath-<lb/>
schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet,<lb/>
eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen,<lb/>
und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit<lb/>
einiger Zuversicht lehnen könnte.</p><lb/>
              <p>Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von<lb/>
wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist<lb/><hi rendition="#g">der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei-<lb/>
nen psychologischen Bedingungen erwogen</hi>. Die<lb/>
Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie-<lb/>
mals kommen, au&#x017F;ser in wiefern der sittliche Charak-<lb/>
ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge-<lb/>
prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist<lb/>
wie die andern alle. Daher mu&#x017F;s man sich die Betrach-<lb/>
tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht<lb/>
erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr<lb/>
allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn<lb/>
dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr-<lb/>
zahl der Menschen, da&#x017F;s gewisse Hauptbestrebungen sich<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[534/0569] überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber er muſs doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh- men wolle. Er muſs einen Plan mitbringen; und er muſs verstehen, zu beobachten. Nun hängt zwar der pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi- schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See- lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen Breite aus einander flieſsen; so daſs nach allen Einzelnhei- ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des ganzen Geschäfts vermiſst wird. Es kann nicht anders seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein Aggregat von Seelenvermögen, so muſs die Lehre von der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich- ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath- schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet, eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen, und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit einiger Zuversicht lehnen könnte. Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei- nen psychologischen Bedingungen erwogen. Die Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie- mals kommen, auſser in wiefern der sittliche Charak- ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge- prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist wie die andern alle. Daher muſs man sich die Betrach- tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr- zahl der Menschen, daſs gewisse Hauptbestrebungen sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/569
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/569>, abgerufen am 24.11.2024.