überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber er muss doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh- men wolle. Er muss einen Plan mitbringen; und er muss verstehen, zu beobachten. Nun hängt zwar der pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi- schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See- lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen Breite aus einander fliessen; so dass nach allen Einzelnhei- ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des ganzen Geschäfts vermisst wird. Es kann nicht anders seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein Aggregat von Seelenvermögen, so muss die Lehre von der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich- ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath- schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet, eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen, und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit einiger Zuversicht lehnen könnte.
Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei- nen psychologischen Bedingungen erwogen. Die Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie- mals kommen, ausser in wiefern der sittliche Charak- ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge- prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist wie die andern alle. Daher muss man sich die Betrach- tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr- zahl der Menschen, dass gewisse Hauptbestrebungen sich
überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber er muſs doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh- men wolle. Er muſs einen Plan mitbringen; und er muſs verstehen, zu beobachten. Nun hängt zwar der pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi- schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See- lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen Breite aus einander flieſsen; so daſs nach allen Einzelnhei- ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des ganzen Geschäfts vermiſst wird. Es kann nicht anders seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein Aggregat von Seelenvermögen, so muſs die Lehre von der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich- ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath- schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet, eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen, und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit einiger Zuversicht lehnen könnte.
Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei- nen psychologischen Bedingungen erwogen. Die Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie- mals kommen, auſser in wiefern der sittliche Charak- ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge- prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist wie die andern alle. Daher muſs man sich die Betrach- tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr- zahl der Menschen, daſs gewisse Hauptbestrebungen sich
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überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber
er muſs doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh-
men wolle. Er muſs einen Plan mitbringen; und er
muſs verstehen, zu beobachten. Nun hängt zwar der
pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung
des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen
Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur
in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur
Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi-
schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See-
lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre
Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen
Breite aus einander flieſsen; so daſs nach allen Einzelnhei-
ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des
ganzen Geschäfts vermiſst wird. Es kann nicht anders
seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein
Aggregat von Seelenvermögen, so muſs die Lehre von
der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich-
ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath-
schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet,
eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen,
und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit
einiger Zuversicht lehnen könnte.
Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von
wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist
der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei-
nen psychologischen Bedingungen erwogen. Die
Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie-
mals kommen, auſser in wiefern der sittliche Charak-
ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge-
prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist
wie die andern alle. Daher muſs man sich die Betrach-
tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht
erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr
allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn
dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr-
zahl der Menschen, daſs gewisse Hauptbestrebungen sich
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/569>, abgerufen am 24.11.2024.
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