sich gehn kann; daher nun die Gegengewichte fehlen, die sonst Ordnung im Innern zu halten pflegen. Ge- wöhnt sich der Mensch an die Unmässigkeit, so entsteht anhaltende Schwäche; nun ist der Boden der Tugend untergraben, denn ihr Fundament ist die Kraft.
Nun sollte, -- drittens, -- der Mensch sein rechtes Maass bemerken. Die ästhetischen Urtheile, in ihrer ganzen, vollständigen Reihe, wie sie sich aufs Wollen und Handeln beziehen, sollten hinzukommen. Sie sollten den starken Affect der Schaam erregen; und hiemit ganz neue Entschliessungen erzeugen. Der Mensch sollte Sich vermissen, und Sich wiederherstellen. Er sollte die Schwäche, das Uebelwollen, das Unrecht, die Unbillig- keit, und die Falschheit, von sich ausstossen. Dann würde er innerlich frey seyn. Ist nun in dem Process des Urtheilens, der Schaam, der Bestrebung, nicht Ener- gie genug, so bleibt der Mensch innerlich unfrey. Wo- her aber soll diese Energie kommen? Das ästhetische Urtheil ist nur Eine geistige Thätigkeit in der Mitte un- zähliger andern. Soll es in diese andern eingreifen: so müssen sie nachgiebig dafür seyn. Aber eine finstre und eine begehrliche Gemüthsart sind beyde darin gleich, dass sie sich gegen den Eindruck des Schönen verschliessen. Kein Wunder, dass beyde auch dem moralisch Schönen oder Hässlichen keinen besondern Werth einräumen; vielmehr dem aufkeimenden Gefühl desselben sich inner- lich widersetzen. Das ist die Verstocktheit, welche den bösen Thaten lange voran geht. Die erste An- deutung derselben sieht man bey Kindern in ihrer sehr ungleichen Empfänglichkeit für moralische Vorstellungen; und zwar gerade für die Darstellung der ganz reinen, uneigennützigen Sittlichkeit, wovon Kant viel mehr er- wartete, als sie leistet; wenn nicht die innere Verstim- mung zuvor gehoben war.
Daraus erzeugt sich gar leicht die eigentliche Bos- heit. Der Mensch setzt sich hinweg über die Schaam; und gebietet dem Gewissen, zu schweigen.
sich gehn kann; daher nun die Gegengewichte fehlen, die sonst Ordnung im Innern zu halten pflegen. Ge- wöhnt sich der Mensch an die Unmäſsigkeit, so entsteht anhaltende Schwäche; nun ist der Boden der Tugend untergraben, denn ihr Fundament ist die Kraft.
Nun sollte, — drittens, — der Mensch sein rechtes Maaſs bemerken. Die ästhetischen Urtheile, in ihrer ganzen, vollständigen Reihe, wie sie sich aufs Wollen und Handeln beziehen, sollten hinzukommen. Sie sollten den starken Affect der Schaam erregen; und hiemit ganz neue Entschlieſsungen erzeugen. Der Mensch sollte Sich vermissen, und Sich wiederherstellen. Er sollte die Schwäche, das Uebelwollen, das Unrecht, die Unbillig- keit, und die Falschheit, von sich ausstoſsen. Dann würde er innerlich frey seyn. Ist nun in dem Proceſs des Urtheilens, der Schaam, der Bestrebung, nicht Ener- gie genug, so bleibt der Mensch innerlich unfrey. Wo- her aber soll diese Energie kommen? Das ästhetische Urtheil ist nur Eine geistige Thätigkeit in der Mitte un- zähliger andern. Soll es in diese andern eingreifen: so müssen sie nachgiebig dafür seyn. Aber eine finstre und eine begehrliche Gemüthsart sind beyde darin gleich, daſs sie sich gegen den Eindruck des Schönen verschlieſsen. Kein Wunder, daſs beyde auch dem moralisch Schönen oder Häſslichen keinen besondern Werth einräumen; vielmehr dem aufkeimenden Gefühl desselben sich inner- lich widersetzen. Das ist die Verstocktheit, welche den bösen Thaten lange voran geht. Die erste An- deutung derselben sieht man bey Kindern in ihrer sehr ungleichen Empfänglichkeit für moralische Vorstellungen; und zwar gerade für die Darstellung der ganz reinen, uneigennützigen Sittlichkeit, wovon Kant viel mehr er- wartete, als sie leistet; wenn nicht die innere Verstim- mung zuvor gehoben war.
Daraus erzeugt sich gar leicht die eigentliche Bos- heit. Der Mensch setzt sich hinweg über die Schaam; und gebietet dem Gewissen, zu schweigen.
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sich gehn kann; daher nun die Gegengewichte fehlen,
die sonst Ordnung im Innern zu halten pflegen. Ge-
wöhnt sich der Mensch an die Unmäſsigkeit, so entsteht
anhaltende Schwäche; nun ist der Boden der Tugend
untergraben, denn ihr Fundament ist die Kraft.
Nun sollte, — drittens, — der Mensch sein rechtes
Maaſs bemerken. Die ästhetischen Urtheile, in ihrer
ganzen, vollständigen Reihe, wie sie sich aufs Wollen
und Handeln beziehen, sollten hinzukommen. Sie sollten
den starken Affect der Schaam erregen; und hiemit ganz
neue Entschlieſsungen erzeugen. Der Mensch sollte Sich
vermissen, und Sich wiederherstellen. Er sollte die
Schwäche, das Uebelwollen, das Unrecht, die Unbillig-
keit, und die Falschheit, von sich ausstoſsen. Dann
würde er innerlich frey seyn. Ist nun in dem Proceſs
des Urtheilens, der Schaam, der Bestrebung, nicht Ener-
gie genug, so bleibt der Mensch innerlich unfrey. Wo-
her aber soll diese Energie kommen? Das ästhetische
Urtheil ist nur Eine geistige Thätigkeit in der Mitte un-
zähliger andern. Soll es in diese andern eingreifen: so
müssen sie nachgiebig dafür seyn. Aber eine finstre und
eine begehrliche Gemüthsart sind beyde darin gleich, daſs
sie sich gegen den Eindruck des Schönen verschlieſsen.
Kein Wunder, daſs beyde auch dem moralisch Schönen
oder Häſslichen keinen besondern Werth einräumen;
vielmehr dem aufkeimenden Gefühl desselben sich inner-
lich widersetzen. Das ist die Verstocktheit, welche
den bösen Thaten lange voran geht. Die erste An-
deutung derselben sieht man bey Kindern in ihrer sehr
ungleichen Empfänglichkeit für moralische Vorstellungen;
und zwar gerade für die Darstellung der ganz reinen,
uneigennützigen Sittlichkeit, wovon Kant viel mehr er-
wartete, als sie leistet; wenn nicht die innere Verstim-
mung zuvor gehoben war.
Daraus erzeugt sich gar leicht die eigentliche Bos-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/479>, abgerufen am 22.11.2024.
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