sie bezieht, kann nicht gross seyn; die Andern sind Fremde, und werden leicht Störer, auch ohne es zu wol- len. Und selbst hievon abgesehen, ist ein widriger, zu- rückstossender Eindruck, den Einer vom Andern empfängt, nichts Seltenes; die Gegenwart eines Menschen lässt so Vieles hoffen, so viel mehreres fürchten, dass man sich nicht wundern kann, wenn Einer sich durch die Nähe des Andern noch öfter beklemmt, als in seinem Daseyn begünstigt und erleichtert fühlt. Solche Gefühle aber hängen überdies sehr von dem habituellen Lebensgefühl des Individuums ab. Eine finstre Gemüthsart ist Sache des Temperaments; und wem eine natürliche innere Un- behaglichkeit beywohnt, der überträgt dieselbe bey der leichtesten Reizung auf Sachen und Personen, mit denen er gerade zu thun hat. So geschieht es schon in den frühesten Kinderjahren.
Also beklemmt, oder gehemmt im Laufe seines Thuns, geräth das Gemüth in Spannung. Daraus entsteht zweyer- ley zugleich, ein Druck nach Aussen und nach Innen. Jener steigert sich leicht zum Hass, und zur Gewaltthä- tigkeit; dieser zum Verhehlen, Verheimlichen, zu Betrug und Lüge. Hier haben wir alle Keime des gesellschaft- lichen Bösen; Uebelwollen, Unrecht, Unbilligkeit, nebst der besondern Form der beyden letztern, die man Falsch- heit nennt; aus ihr aber, in Verbindung mit dem Uebel- wollen, entsteht die Tücke.
Dieser Ursprung des Bösen ist rein psychologisch. Ein andrer, von etwas späterer Entwickelung, hat phy- siologische Anlässe. Mancherley, an sich unschuldige, Geniessungen, sind von der Art, dass der Leib nur ein bestimmtes Maass derselben erträgt; drüber hinaus folgt Abspannung, die auf den Geist sich überträgt; und dort zum Theil die Form der Ueberspannung annimmt, wie im Rausche; weil der, bekanntlich verwickelte, Process der Apperception, worauf der innere Sinn, und der voll- ständigen Entwickelung der Vorstellungsreihen, worauf der Verstand beruht, nicht mehr in seiner Integrität vor
sie bezieht, kann nicht groſs seyn; die Andern sind Fremde, und werden leicht Störer, auch ohne es zu wol- len. Und selbst hievon abgesehen, ist ein widriger, zu- rückstoſsender Eindruck, den Einer vom Andern empfängt, nichts Seltenes; die Gegenwart eines Menschen läſst so Vieles hoffen, so viel mehreres fürchten, daſs man sich nicht wundern kann, wenn Einer sich durch die Nähe des Andern noch öfter beklemmt, als in seinem Daseyn begünstigt und erleichtert fühlt. Solche Gefühle aber hängen überdies sehr von dem habituellen Lebensgefühl des Individuums ab. Eine finstre Gemüthsart ist Sache des Temperaments; und wem eine natürliche innere Un- behaglichkeit beywohnt, der überträgt dieselbe bey der leichtesten Reizung auf Sachen und Personen, mit denen er gerade zu thun hat. So geschieht es schon in den frühesten Kinderjahren.
Also beklemmt, oder gehemmt im Laufe seines Thuns, geräth das Gemüth in Spannung. Daraus entsteht zweyer- ley zugleich, ein Druck nach Auſsen und nach Innen. Jener steigert sich leicht zum Haſs, und zur Gewaltthä- tigkeit; dieser zum Verhehlen, Verheimlichen, zu Betrug und Lüge. Hier haben wir alle Keime des gesellschaft- lichen Bösen; Uebelwollen, Unrecht, Unbilligkeit, nebst der besondern Form der beyden letztern, die man Falsch- heit nennt; aus ihr aber, in Verbindung mit dem Uebel- wollen, entsteht die Tücke.
Dieser Ursprung des Bösen ist rein psychologisch. Ein andrer, von etwas späterer Entwickelung, hat phy- siologische Anlässe. Mancherley, an sich unschuldige, Genieſsungen, sind von der Art, daſs der Leib nur ein bestimmtes Maaſs derselben erträgt; drüber hinaus folgt Abspannung, die auf den Geist sich überträgt; und dort zum Theil die Form der Ueberspannung annimmt, wie im Rausche; weil der, bekanntlich verwickelte, Proceſs der Apperception, worauf der innere Sinn, und der voll- ständigen Entwickelung der Vorstellungsreihen, worauf der Verstand beruht, nicht mehr in seiner Integrität vor
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rückstoſsender Eindruck, den Einer vom Andern empfängt,
nichts Seltenes; die Gegenwart eines Menschen läſst so
Vieles hoffen, so viel mehreres fürchten, daſs man sich
nicht wundern kann, wenn Einer sich durch die Nähe
des Andern noch öfter beklemmt, als in seinem Daseyn
begünstigt und erleichtert fühlt. Solche Gefühle aber
hängen überdies sehr von dem habituellen Lebensgefühl
des Individuums ab. Eine finstre Gemüthsart ist Sache
des Temperaments; und wem eine natürliche innere Un-
behaglichkeit beywohnt, der überträgt dieselbe bey der
leichtesten Reizung auf Sachen und Personen, mit denen
er gerade zu thun hat. So geschieht es schon in den
frühesten Kinderjahren.
Also beklemmt, oder gehemmt im Laufe seines Thuns,
geräth das Gemüth in Spannung. Daraus entsteht zweyer-
ley zugleich, ein Druck nach Auſsen und nach Innen.
Jener steigert sich leicht zum Haſs, und zur Gewaltthä-
tigkeit; dieser zum Verhehlen, Verheimlichen, zu Betrug
und Lüge. Hier haben wir alle Keime des gesellschaft-
lichen Bösen; Uebelwollen, Unrecht, Unbilligkeit, nebst
der besondern Form der beyden letztern, die man Falsch-
heit nennt; aus ihr aber, in Verbindung mit dem Uebel-
wollen, entsteht die Tücke.
Dieser Ursprung des Bösen ist rein psychologisch.
Ein andrer, von etwas späterer Entwickelung, hat phy-
siologische Anlässe. Mancherley, an sich unschuldige,
Genieſsungen, sind von der Art, daſs der Leib nur ein
bestimmtes Maaſs derselben erträgt; drüber hinaus folgt
Abspannung, die auf den Geist sich überträgt; und dort
zum Theil die Form der Ueberspannung annimmt, wie
im Rausche; weil der, bekanntlich verwickelte, Proceſs
der Apperception, worauf der innere Sinn, und der voll-
ständigen Entwickelung der Vorstellungsreihen, worauf
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/478>, abgerufen am 22.11.2024.
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