Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden, wenn nicht Hülfe von Aussen kommt. In der Barbarey liegen alle Laster; aber nicht alle Menschen, die in ei- nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar- baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen, die Gottheit reden zu lassen *). Und hier nun ist der Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor- theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist der natüuliche Lauf der Dinge.
Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten, als er ist, muss man besonders auf zwey Umstände achten. Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll- kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb- liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte. Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging, wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer- stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge- legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu verstecken. -- Die zweyte Bemerkung trifft die gesell- schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie-
*) Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle möglichen ästhetischen Eindrücke, durch Poesie, Beredsamkeit, Musik, Malerey, Architectur. Sie weiss demnach, wo es fehlt; nur versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen heftiger, als in der Mischung gar zu bunter Eindrücke.
Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden, wenn nicht Hülfe von Auſsen kommt. In der Barbarey liegen alle Laster; aber nicht alle Menschen, die in ei- nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar- baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen, die Gottheit reden zu lassen *). Und hier nun ist der Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor- theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist der natüuliche Lauf der Dinge.
Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten, als er ist, muſs man besonders auf zwey Umstände achten. Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll- kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb- liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte. Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging, wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer- stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge- legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu verstecken. — Die zweyte Bemerkung trifft die gesell- schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie-
*) Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle möglichen ästhetischen Eindrücke, durch Poësie, Beredsamkeit, Musik, Malerey, Architectur. Sie weiſs demnach, wo es fehlt; nur versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen heftiger, als in der Mischung gar zu bunter Eindrücke.
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Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden,
wenn nicht Hülfe von Auſsen kommt. In der Barbarey
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nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar-
baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen,
die Gottheit reden zu lassen *). Und hier nun ist der
Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich
gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das
Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den
ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar
an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor-
theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist
der natüuliche Lauf der Dinge.
Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den
Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten,
als er ist, muſs man besonders auf zwey Umstände achten.
Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll-
kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb-
liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte
Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner
rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte.
Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging,
wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem
seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer-
stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht
der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge-
legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu
verstecken. — Die zweyte Bemerkung trifft die gesell-
schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was
oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik
des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie-
*) Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle
möglichen ästhetischen Eindrücke, durch Poësie, Beredsamkeit,
Musik, Malerey, Architectur. Sie weiſs demnach, wo es fehlt; nur
versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/480>, abgerufen am 22.11.2024.
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