Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden,
wenn nicht Hülfe von Aussen kommt. In der Barbarey
liegen alle Laster; aber nicht alle Menschen, die in ei-
nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar-
baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen,
die Gottheit reden zu lassen *). Und hier nun ist der
Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich
gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das
Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den
ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar
an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor-
theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist
der natüuliche Lauf der Dinge.

Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den
Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten,
als er ist, muss man besonders auf zwey Umstände achten.
Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll-
kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb-
liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte
Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner
rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte.
Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging,
wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem
seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer-
stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht
der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge-
legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu
verstecken. -- Die zweyte Bemerkung trifft die gesell-
schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was
oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik
des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie-

*) Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle
möglichen ästhetischen Eindrücke, durch Poesie, Beredsamkeit,
Musik, Malerey, Architectur. Sie weiss demnach, wo es fehlt; nur
versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen
heftiger, als in der Mischung gar zu bunter Eindrücke.

Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden,
wenn nicht Hülfe von Auſsen kommt. In der Barbarey
liegen alle Laster; aber nicht alle Menschen, die in ei-
nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar-
baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen,
die Gottheit reden zu lassen *). Und hier nun ist der
Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich
gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das
Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den
ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar
an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor-
theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist
der natüuliche Lauf der Dinge.

Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den
Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten,
als er ist, muſs man besonders auf zwey Umstände achten.
Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll-
kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb-
liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte
Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner
rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte.
Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging,
wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem
seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer-
stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht
der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge-
legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu
verstecken. — Die zweyte Bemerkung trifft die gesell-
schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was
oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik
des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie-

*) Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle
möglichen ästhetischen Eindrücke, durch Poësie, Beredsamkeit,
Musik, Malerey, Architectur. Sie weiſs demnach, wo es fehlt; nur
versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen
heftiger, als in der Mischung gar zu bunter Eindrücke.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0480" n="445"/>
              <p>Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden,<lb/>
wenn nicht Hülfe von Au&#x017F;sen kommt. In der Barbarey<lb/>
liegen alle Laster; aber nicht alle Menschen, die in ei-<lb/>
nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar-<lb/>
baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen,<lb/>
die Gottheit reden zu lassen <note place="foot" n="*)">Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle<lb/>
möglichen <hi rendition="#g">ästhetischen</hi> Eindrücke, durch Poësie, Beredsamkeit,<lb/>
Musik, Malerey, Architectur. Sie wei&#x017F;s demnach, wo es fehlt; nur<lb/>
versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen<lb/>
heftiger, als in der Mischung gar zu bunter Eindrücke.</note>. Und hier nun ist der<lb/>
Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich<lb/>
gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das<lb/>
Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den<lb/>
ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar<lb/>
an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor-<lb/>
theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist<lb/>
der natüuliche Lauf der Dinge.</p><lb/>
              <p>Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den<lb/>
Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten,<lb/>
als er ist, mu&#x017F;s man besonders auf zwey Umstände achten.<lb/>
Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll-<lb/>
kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb-<lb/>
liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte<lb/>
Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner<lb/>
rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte.<lb/>
Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging,<lb/>
wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem<lb/>
seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer-<lb/>
stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht<lb/>
der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge-<lb/>
legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu<lb/>
verstecken. &#x2014; Die zweyte Bemerkung trifft die gesell-<lb/>
schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was<lb/>
oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik<lb/>
des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[445/0480] Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden, wenn nicht Hülfe von Auſsen kommt. In der Barbarey liegen alle Laster; aber nicht alle Menschen, die in ei- nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar- baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen, die Gottheit reden zu lassen *). Und hier nun ist der Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor- theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist der natüuliche Lauf der Dinge. Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten, als er ist, muſs man besonders auf zwey Umstände achten. Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll- kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb- liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte. Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging, wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer- stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge- legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu verstecken. — Die zweyte Bemerkung trifft die gesell- schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie- *) Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle möglichen ästhetischen Eindrücke, durch Poësie, Beredsamkeit, Musik, Malerey, Architectur. Sie weiſs demnach, wo es fehlt; nur versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen heftiger, als in der Mischung gar zu bunter Eindrücke.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/480
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/480>, abgerufen am 22.11.2024.