kommt hier nur darauf an, psychologisch zu erklären, wie derjenige Begriff der Substanz entspringe, und im Denken erzeugt werde, der allgemein einem Je- den vorschwebt, sobald es ihm einfällt, die Substanz ei- nes Dinges von dessen Beschaffenheiten zu unterschei- den. Und diese Erklärung ist schon geleistet. Die Er- zeugung des Begriffs der Substanz geschieht, wie gesagt, durch diejenigen Urtheile, in welchen die sämmtlichen Prädicate, einzeln genommen, den Sachen beygelegt werden. Auf welche Weise sich der- gleichen Urtheile, nicht etwan alle auf einmal, sondern eins nach dem andern bey vorkommenden Gelegenhei- ten, entwickeln, ist im §. 123. gewiesen worden. Es müssen nun allmählig alle diejenigen Urtheile sich an- sammeln, und zugleich ins Bewusstseyn treten, wodurch einer Sache ihre verschiedene Merkmale einzeln genom- men sind beygelegt worden. Alsdann ergiebt sich zu- vörderst eine Gleichung, oder, wenn man will, eine De- finition für diese Sache; sie ist = allen ihren Merkmalen.
Nun aber macht sich der Gegensatz fühlbar zwischen der Einheit der Sache und der Vielheit der Merkmale. Die Gleichung kann also nicht bestehen. Und die vori- gen Urtheile würden sämmtlich ungereimt werden, wenn sie bestünde. Die Sache heisse A; ihre Merkmale seyen a, b, c, d, e. Wäre nun A=a+b+c+d+e, so würde der Satz, A ist a, A ist b, u. s. w. sich in die falsche Gleichung verwandelt haben: a=a+b+c+d+e; oder b=a+b+c+d+e, u. s. w. Daher ändert sich nun der Ausdruck in jedem von jenen Urtheilen. Es heisst nun nicht mehr: A ist a, z. B. der Schnee ist weiss; sondern Abesitzta, der Schnee besitzt das Kennzeichen oder die Eigenschaft der weissen Farbe. Man sagt nicht, die Substanz ist ihr Accidens, sondern, sie hat ein Accidens. Wird dieses durch die sämmtli- chen erwähnten Urtheile durchgeführt, so ist A nur noch der Besitzer der sämmtlichen Eigenschaften, es ist nicht mehr durch dieselben zu definiren, sondern es bietet nur
kommt hier nur darauf an, psychologisch zu erklären, wie derjenige Begriff der Substanz entspringe, und im Denken erzeugt werde, der allgemein einem Je- den vorschwebt, sobald es ihm einfällt, die Substanz ei- nes Dinges von dessen Beschaffenheiten zu unterschei- den. Und diese Erklärung ist schon geleistet. Die Er- zeugung des Begriffs der Substanz geschieht, wie gesagt, durch diejenigen Urtheile, in welchen die sämmtlichen Prädicate, einzeln genommen, den Sachen beygelegt werden. Auf welche Weise sich der- gleichen Urtheile, nicht etwan alle auf einmal, sondern eins nach dem andern bey vorkommenden Gelegenhei- ten, entwickeln, ist im §. 123. gewiesen worden. Es müssen nun allmählig alle diejenigen Urtheile sich an- sammeln, und zugleich ins Bewuſstseyn treten, wodurch einer Sache ihre verschiedene Merkmale einzeln genom- men sind beygelegt worden. Alsdann ergiebt sich zu- vörderst eine Gleichung, oder, wenn man will, eine De- finition für diese Sache; sie ist = allen ihren Merkmalen.
Nun aber macht sich der Gegensatz fühlbar zwischen der Einheit der Sache und der Vielheit der Merkmale. Die Gleichung kann also nicht bestehen. Und die vori- gen Urtheile würden sämmtlich ungereimt werden, wenn sie bestünde. Die Sache heiſse A; ihre Merkmale seyen a, b, c, d, e. Wäre nun A=a+b+c+d+e, so würde der Satz, A ist a, A ist b, u. s. w. sich in die falsche Gleichung verwandelt haben: a=a+b+c+d+e; oder b=a+b+c+d+e, u. s. w. Daher ändert sich nun der Ausdruck in jedem von jenen Urtheilen. Es heiſst nun nicht mehr: A ist a, z. B. der Schnee ist weiſs; sondern Abesitzta, der Schnee besitzt das Kennzeichen oder die Eigenschaft der weiſsen Farbe. Man sagt nicht, die Substanz ist ihr Accidens, sondern, sie hat ein Accidens. Wird dieses durch die sämmtli- chen erwähnten Urtheile durchgeführt, so ist A nur noch der Besitzer der sämmtlichen Eigenschaften, es ist nicht mehr durch dieselben zu definiren, sondern es bietet nur
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kommt hier nur darauf an, psychologisch zu erklären,
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nes Dinges von dessen Beschaffenheiten zu unterschei-
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zeugung des Begriffs der Substanz geschieht,
wie gesagt, durch diejenigen Urtheile, in welchen
die sämmtlichen Prädicate, einzeln genommen, den
Sachen beygelegt werden. Auf welche Weise sich der-
gleichen Urtheile, nicht etwan alle auf einmal, sondern
eins nach dem andern bey vorkommenden Gelegenhei-
ten, entwickeln, ist im §. 123. gewiesen worden. Es
müssen nun allmählig alle diejenigen Urtheile sich an-
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vörderst eine Gleichung, oder, wenn man will, eine De-
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Nun aber macht sich der Gegensatz fühlbar zwischen
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Die Gleichung kann also nicht bestehen. Und die vori-
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a, b, c, d, e. Wäre nun A=a+b+c+d+e, so
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oder b=a+b+c+d+e, u. s. w. Daher ändert sich
nun der Ausdruck in jedem von jenen Urtheilen. Es
heiſst nun nicht mehr: A ist a, z. B. der Schnee ist
weiſs; sondern A besitzt a, der Schnee besitzt das
Kennzeichen oder die Eigenschaft der weiſsen Farbe.
Man sagt nicht, die Substanz ist ihr Accidens, sondern,
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der Besitzer der sämmtlichen Eigenschaften, es ist nicht
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/348>, abgerufen am 22.11.2024.
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