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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Erfahrung selbst herheygeführte, Begriff der Substanz
gänzlich zeitlos ist; wodurch ferner der ganze Zweig
von Untersuchung verdorren muss, der von dem Begriff
des gemeinsamen Seyns eines Mehrfachen ausgeht; wo-
durch endlich nichts weiter gewonnen wird, als dass man
aus dem ersten Hauptprobleme der Metaphysik, in das
zweyte, in das von der Veränderung sich verirre, indem
der Begriff des Beharrlichen nur als Gegensatz des Ver-
änderlichen etwas bedeutet. Kant würde diesen und
noch viele andre Fehler sehr leicht vermieden haben,
wenn er Locken aufmerksam gelesen, und sich auf dem
Standpuncte von dessen Untersuchung gehörig orientirt,
oder noch besser, wenn er die von Locken zur Unter-
suchung zurecht gelegten Erfahrungsbegriffe, mit seinem
Scharfsinn erwogen hätte. Dieses aber hätte freylich ge-
schehen müssen, ehe ein Kantisches System existirte.

Doch wenn Kant die Winke Locke's in Anse-
hung des Begriffs der Substanz nicht gehörig benutzte,
so mag dies seiner allgemeinen Unachtsamkeit auf den
von ihm gering geschätzten Philosophen zugeschrieben
werden. In einem andern Falle ist Leibnitz, der
Locken Schritt für Schritt verfolgt. Wir wollen ihn
wiederum verfolgen, und uns die Stellen seiner neuen
Versuche
, wo er gegen Lockens Bemerkungen über
den Begriff der Substanz streitet, zusammensuchen. Sie
finden sich im zweyten Buche Cap. 12. §. 6., Cap. 13.
§. 19., vorzüglich aber Cap. 23. §. 1., u. s. w. endlich
im vierten Buche Cap. 6. §. 4. u. s. w.; diese, wenn ich
nicht irre, werden alle seyn. Und was ist in diesen Stel-
len der Haupt-Nerv von Leibnitzens Argumenten? Et-
was höflicher als diejenigen, die mich beschuldigten, Wi-
dersprüche willkührlich ersonnen zu haben, warnt er
Locken wider das nodum in scirpo quaerere; "Sie schei-
nen Sich," sagt er, "ohne Noth Schwierigkeiten zu ma-
"chen; und ich sehe gar nicht ein, warum die nämliche
"Sache so oft und immer wieder von neuem von Ihnen
"angegriffen wird. Wenn ich mir einen Körper denke,

Erfahrung selbst herheygeführte, Begriff der Substanz
gänzlich zeitlos ist; wodurch ferner der ganze Zweig
von Untersuchung verdorren muſs, der von dem Begriff
des gemeinsamen Seyns eines Mehrfachen ausgeht; wo-
durch endlich nichts weiter gewonnen wird, als daſs man
aus dem ersten Hauptprobleme der Metaphysik, in das
zweyte, in das von der Veränderung sich verirre, indem
der Begriff des Beharrlichen nur als Gegensatz des Ver-
änderlichen etwas bedeutet. Kant würde diesen und
noch viele andre Fehler sehr leicht vermieden haben,
wenn er Locken aufmerksam gelesen, und sich auf dem
Standpuncte von dessen Untersuchung gehörig orientirt,
oder noch besser, wenn er die von Locken zur Unter-
suchung zurecht gelegten Erfahrungsbegriffe, mit seinem
Scharfsinn erwogen hätte. Dieses aber hätte freylich ge-
schehen müssen, ehe ein Kantisches System existirte.

Doch wenn Kant die Winke Locke’s in Anse-
hung des Begriffs der Substanz nicht gehörig benutzte,
so mag dies seiner allgemeinen Unachtsamkeit auf den
von ihm gering geschätzten Philosophen zugeschrieben
werden. In einem andern Falle ist Leibnitz, der
Locken Schritt für Schritt verfolgt. Wir wollen ihn
wiederum verfolgen, und uns die Stellen seiner neuen
Versuche
, wo er gegen Lockens Bemerkungen über
den Begriff der Substanz streitet, zusammensuchen. Sie
finden sich im zweyten Buche Cap. 12. §. 6., Cap. 13.
§. 19., vorzüglich aber Cap. 23. §. 1., u. s. w. endlich
im vierten Buche Cap. 6. §. 4. u. s. w.; diese, wenn ich
nicht irre, werden alle seyn. Und was ist in diesen Stel-
len der Haupt-Nerv von Leibnitzens Argumenten? Et-
was höflicher als diejenigen, die mich beschuldigten, Wi-
dersprüche willkührlich ersonnen zu haben, warnt er
Locken wider das nodum in ſcirpo quaerere; „Sie schei-
nen Sich,“ sagt er, „ohne Noth Schwierigkeiten zu ma-
„chen; und ich sehe gar nicht ein, warum die nämliche
„Sache so oft und immer wieder von neuem von Ihnen
„angegriffen wird. Wenn ich mir einen Körper denke,

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[302/0337] Erfahrung selbst herheygeführte, Begriff der Substanz gänzlich zeitlos ist; wodurch ferner der ganze Zweig von Untersuchung verdorren muſs, der von dem Begriff des gemeinsamen Seyns eines Mehrfachen ausgeht; wo- durch endlich nichts weiter gewonnen wird, als daſs man aus dem ersten Hauptprobleme der Metaphysik, in das zweyte, in das von der Veränderung sich verirre, indem der Begriff des Beharrlichen nur als Gegensatz des Ver- änderlichen etwas bedeutet. Kant würde diesen und noch viele andre Fehler sehr leicht vermieden haben, wenn er Locken aufmerksam gelesen, und sich auf dem Standpuncte von dessen Untersuchung gehörig orientirt, oder noch besser, wenn er die von Locken zur Unter- suchung zurecht gelegten Erfahrungsbegriffe, mit seinem Scharfsinn erwogen hätte. Dieses aber hätte freylich ge- schehen müssen, ehe ein Kantisches System existirte. Doch wenn Kant die Winke Locke’s in Anse- hung des Begriffs der Substanz nicht gehörig benutzte, so mag dies seiner allgemeinen Unachtsamkeit auf den von ihm gering geschätzten Philosophen zugeschrieben werden. In einem andern Falle ist Leibnitz, der Locken Schritt für Schritt verfolgt. Wir wollen ihn wiederum verfolgen, und uns die Stellen seiner neuen Versuche, wo er gegen Lockens Bemerkungen über den Begriff der Substanz streitet, zusammensuchen. Sie finden sich im zweyten Buche Cap. 12. §. 6., Cap. 13. §. 19., vorzüglich aber Cap. 23. §. 1., u. s. w. endlich im vierten Buche Cap. 6. §. 4. u. s. w.; diese, wenn ich nicht irre, werden alle seyn. Und was ist in diesen Stel- len der Haupt-Nerv von Leibnitzens Argumenten? Et- was höflicher als diejenigen, die mich beschuldigten, Wi- dersprüche willkührlich ersonnen zu haben, warnt er Locken wider das nodum in ſcirpo quaerere; „Sie schei- nen Sich,“ sagt er, „ohne Noth Schwierigkeiten zu ma- „chen; und ich sehe gar nicht ein, warum die nämliche „Sache so oft und immer wieder von neuem von Ihnen „angegriffen wird. Wenn ich mir einen Körper denke,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/337>, abgerufen am 25.11.2024.