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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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liche Thätigkeit des Gemüths erklärt werden muss. Denn
eben die Vorstellungen selbst sind die Kräfte der Seele.
Vorstellungen sind nicht etwan blosse Bilder, ein nichti-
ger Widerschein des Seyenden, sondern sie sind das
wirkliche Thun und Geschehen, vermöge dessen die Seele
ihr Wesen aufrecht hält, und ohne welches sie aufhö-
ren würde zu seyn was sie ist. Um aber die Art, wie
die Vorstellungen zusammenwirken, genau kennen zu ler-
nen, muss man nicht die grossen Massen von Vorstel-
lungen, welche die innere Wahrnehmung vorfindet, noch
die ganzen Classen von Gemüthszuständen, an wel-
chen der logische Scharfsinn der meisten Psychologen
sich übt, -- sondern man muss gerade wie Leibniz die
kleinen Vorstellungen ins Auge fassen, -- und ich
kann hinzusetzen, man muss auch durch Leibnizens
Erfindung, die Rechnung des Unendlichen, das Auge
schärfen, um die kleinen Vorstellungen in ihrer Wirk-
samkeit beobachten zu können.

Nehme ich noch hinzu, dass schon Leibniz den
vollkommen richtigen Gedanken verbreitete, die Seele
erzeuge alle ihre Vorstellungen aus sich selbst
:
so könnte ich mich einen Augenblick der Verwunderung
hingeben, dass so treffliche Vorarbeiten dennoch
keine tüchtige Psychologie erzeugt haben
! --
Aber die prästabilirte Harmonie -- nach welcher die Seele
nicht bloss aus und durch sich selbst, sondern auch von
selbst
, ohne äussere Veranlassung, ihre Vorstellungen
erzeugen soll, -- hat ihre schwachen Seiten; sie ist mit
theologischen und naturphilosophischen Meinungen ver-
wickelt; sie wurde dadurch vielmehr ein Gegenstand, als
eine Quelle neuer Nachforschungen; sie wurde verworfen,
und vielleicht beynahe vergessen. Leibnizens Lehre
wurde niedergedrückt, theils durch die auf den ersten An-
blick klärere Lehre des Locke, welcher sie noch mehr zu
widerstreiten schien, als sie ihr wirklich entgegen ist, (denn
die Sätze, dass die Seele ursprünglich eine tabula rasa
ist; und, dass sie ihre Vorstellungen aus sich selbst er-

liche Thätigkeit des Gemüths erklärt werden muſs. Denn
eben die Vorstellungen selbst sind die Kräfte der Seele.
Vorstellungen sind nicht etwan bloſse Bilder, ein nichti-
ger Widerschein des Seyenden, sondern sie sind das
wirkliche Thun und Geschehen, vermöge dessen die Seele
ihr Wesen aufrecht hält, und ohne welches sie aufhö-
ren würde zu seyn was sie ist. Um aber die Art, wie
die Vorstellungen zusammenwirken, genau kennen zu ler-
nen, muſs man nicht die groſsen Massen von Vorstel-
lungen, welche die innere Wahrnehmung vorfindet, noch
die ganzen Classen von Gemüthszuständen, an wel-
chen der logische Scharfsinn der meisten Psychologen
sich übt, — sondern man muſs gerade wie Leibniz die
kleinen Vorstellungen ins Auge fassen, — und ich
kann hinzusetzen, man muſs auch durch Leibnizens
Erfindung, die Rechnung des Unendlichen, das Auge
schärfen, um die kleinen Vorstellungen in ihrer Wirk-
samkeit beobachten zu können.

Nehme ich noch hinzu, daſs schon Leibniz den
vollkommen richtigen Gedanken verbreitete, die Seele
erzeuge alle ihre Vorstellungen aus sich selbst
:
so könnte ich mich einen Augenblick der Verwunderung
hingeben, daſs so treffliche Vorarbeiten dennoch
keine tüchtige Psychologie erzeugt haben
! —
Aber die prästabilirte Harmonie — nach welcher die Seele
nicht bloſs aus und durch sich selbst, sondern auch von
selbst
, ohne äuſsere Veranlassung, ihre Vorstellungen
erzeugen soll, — hat ihre schwachen Seiten; sie ist mit
theologischen und naturphilosophischen Meinungen ver-
wickelt; sie wurde dadurch vielmehr ein Gegenstand, als
eine Quelle neuer Nachforschungen; sie wurde verworfen,
und vielleicht beynahe vergessen. Leibnizens Lehre
wurde niedergedrückt, theils durch die auf den ersten An-
blick klärere Lehre des Locke, welcher sie noch mehr zu
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[56/0076] liche Thätigkeit des Gemüths erklärt werden muſs. Denn eben die Vorstellungen selbst sind die Kräfte der Seele. Vorstellungen sind nicht etwan bloſse Bilder, ein nichti- ger Widerschein des Seyenden, sondern sie sind das wirkliche Thun und Geschehen, vermöge dessen die Seele ihr Wesen aufrecht hält, und ohne welches sie aufhö- ren würde zu seyn was sie ist. Um aber die Art, wie die Vorstellungen zusammenwirken, genau kennen zu ler- nen, muſs man nicht die groſsen Massen von Vorstel- lungen, welche die innere Wahrnehmung vorfindet, noch die ganzen Classen von Gemüthszuständen, an wel- chen der logische Scharfsinn der meisten Psychologen sich übt, — sondern man muſs gerade wie Leibniz die kleinen Vorstellungen ins Auge fassen, — und ich kann hinzusetzen, man muſs auch durch Leibnizens Erfindung, die Rechnung des Unendlichen, das Auge schärfen, um die kleinen Vorstellungen in ihrer Wirk- samkeit beobachten zu können. Nehme ich noch hinzu, daſs schon Leibniz den vollkommen richtigen Gedanken verbreitete, die Seele erzeuge alle ihre Vorstellungen aus sich selbst: so könnte ich mich einen Augenblick der Verwunderung hingeben, daſs so treffliche Vorarbeiten dennoch keine tüchtige Psychologie erzeugt haben! — Aber die prästabilirte Harmonie — nach welcher die Seele nicht bloſs aus und durch sich selbst, sondern auch von selbst, ohne äuſsere Veranlassung, ihre Vorstellungen erzeugen soll, — hat ihre schwachen Seiten; sie ist mit theologischen und naturphilosophischen Meinungen ver- wickelt; sie wurde dadurch vielmehr ein Gegenstand, als eine Quelle neuer Nachforschungen; sie wurde verworfen, und vielleicht beynahe vergessen. Leibnizens Lehre wurde niedergedrückt, theils durch die auf den ersten An- blick klärere Lehre des Locke, welcher sie noch mehr zu widerstreiten schien, als sie ihr wirklich entgegen ist, (denn die Sätze, daſs die Seele ursprünglich eine tabula rasa ist; und, daſs sie ihre Vorstellungen aus sich selbst er-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/76>, abgerufen am 22.11.2024.