fassung zu schwach ist; ich habe versucht, dieses mathe- matisch zu bestimmen. Hierher aber gehört vorzüglich die Bemerkung, dass zwey beynahe gleichklingende Aus- drücke einen ganz verschiedenen Sinn haben: ins Be- wusstseyn kommen, und, den Gegenstand aus- machen, dessen man sich bewusst wird. Die zu- vor genannten kleinen Vorstellungen kommen ohne Zwei- fel ins Bewusstseyn; gleichwohl werden wir uns ihrer nicht bewusst, wir können es uns nicht sagen, dass sie ins Bewusstseyn gekommen seyen. Dieses, was schwer zu verstehen scheint, muss am gehörigen Orte vollkom- men klar werden; indessen wird es Gewinn seyn, die Sache schon hier so weit als möglich ins Licht zu setzen. Zuvörderst: die Seele hat viele Vorstellungen, die den- noch nicht im Bewusstseyn sind. Dieses sind die völlig gehemmten, oder nach gewöhnlicher Benennung, die im Gedächtniss ruhenden Vorstellungen. Ferner, diese ge- hemmten Vorstellungen waren früher im Bewusstseyn, und kehren in dasselbe zurück, wenn die Hemmung nachlässt. Allein um nun auch noch sich ihrer be- wusst zu werden, (sie zu appercipiren,) -- dazu ge- hört, dass sie selbst Objecte eines neuen Vorstellens wer- den; welches niemals durch sie selbst, sondern allemal nur durch eine andre Vorstellungsreihe geschehn kann. Dieses aber hängt gewöhnlich von ihrer Stärke, zuweilen von ihrer Neuheit, überhaupt von den Umständen ab, unter denen eine Vorstellungsreihe auf eine andere Ein- fluss hat, und ein Object derselben wird.
Leibnizens Aufmerksamkeit auf die kleinen Vor- stellungen, durch deren Hülfe er die Continuität der geistigen Phänomene verfolgt, und denen er "mehr Kraft als man denken sollte," zuschreibt, verräth das Auge des Metaphysikers, dem es nicht genügt, nur das anzuschauen, was auf dem Vorhange der Wahrneh- mung zu sehn ist, sondern der hinter den Vorhang blickt, und dort -- nicht etwan erdichtete Seelenvermögen, son- dern die wahren Kräfte aufsucht, aus denen die sämmt-
fassung zu schwach ist; ich habe versucht, dieses mathe- matisch zu bestimmen. Hierher aber gehört vorzüglich die Bemerkung, daſs zwey beynahe gleichklingende Aus- drücke einen ganz verschiedenen Sinn haben: ins Be- wuſstseyn kommen, und, den Gegenstand aus- machen, dessen man sich bewuſst wird. Die zu- vor genannten kleinen Vorstellungen kommen ohne Zwei- fel ins Bewuſstseyn; gleichwohl werden wir uns ihrer nicht bewuſst, wir können es uns nicht sagen, daſs sie ins Bewuſstseyn gekommen seyen. Dieses, was schwer zu verstehen scheint, muſs am gehörigen Orte vollkom- men klar werden; indessen wird es Gewinn seyn, die Sache schon hier so weit als möglich ins Licht zu setzen. Zuvörderst: die Seele hat viele Vorstellungen, die den- noch nicht im Bewuſstseyn sind. Dieses sind die völlig gehemmten, oder nach gewöhnlicher Benennung, die im Gedächtniſs ruhenden Vorstellungen. Ferner, diese ge- hemmten Vorstellungen waren früher im Bewuſstseyn, und kehren in dasselbe zurück, wenn die Hemmung nachläſst. Allein um nun auch noch sich ihrer be- wuſst zu werden, (sie zu appercipiren,) — dazu ge- hört, daſs sie selbst Objecte eines neuen Vorstellens wer- den; welches niemals durch sie selbst, sondern allemal nur durch eine andre Vorstellungsreihe geschehn kann. Dieses aber hängt gewöhnlich von ihrer Stärke, zuweilen von ihrer Neuheit, überhaupt von den Umständen ab, unter denen eine Vorstellungsreihe auf eine andere Ein- fluſs hat, und ein Object derselben wird.
Leibnizens Aufmerksamkeit auf die kleinen Vor- stellungen, durch deren Hülfe er die Continuität der geistigen Phänomene verfolgt, und denen er „mehr Kraft als man denken sollte,“ zuschreibt, verräth das Auge des Metaphysikers, dem es nicht genügt, nur das anzuschauen, was auf dem Vorhange der Wahrneh- mung zu sehn ist, sondern der hinter den Vorhang blickt, und dort — nicht etwan erdichtete Seelenvermögen, son- dern die wahren Kräfte aufsucht, aus denen die sämmt-
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fassung zu schwach ist; ich habe versucht, dieses mathe-
matisch zu bestimmen. Hierher aber gehört vorzüglich
die Bemerkung, daſs zwey beynahe gleichklingende Aus-
drücke einen ganz verschiedenen Sinn haben: ins Be-
wuſstseyn kommen, und, den Gegenstand aus-
machen, dessen man sich bewuſst wird. Die zu-
vor genannten kleinen Vorstellungen kommen ohne Zwei-
fel ins Bewuſstseyn; gleichwohl werden wir uns ihrer
nicht bewuſst, wir können es uns nicht sagen, daſs
sie ins Bewuſstseyn gekommen seyen. Dieses, was schwer
zu verstehen scheint, muſs am gehörigen Orte vollkom-
men klar werden; indessen wird es Gewinn seyn, die
Sache schon hier so weit als möglich ins Licht zu setzen.
Zuvörderst: die Seele hat viele Vorstellungen, die den-
noch nicht im Bewuſstseyn sind. Dieses sind die völlig
gehemmten, oder nach gewöhnlicher Benennung, die im
Gedächtniſs ruhenden Vorstellungen. Ferner, diese ge-
hemmten Vorstellungen waren früher im Bewuſstseyn,
und kehren in dasselbe zurück, wenn die Hemmung
nachläſst. Allein um nun auch noch sich ihrer be-
wuſst zu werden, (sie zu appercipiren,) — dazu ge-
hört, daſs sie selbst Objecte eines neuen Vorstellens wer-
den; welches niemals durch sie selbst, sondern allemal
nur durch eine andre Vorstellungsreihe geschehn kann.
Dieses aber hängt gewöhnlich von ihrer Stärke, zuweilen
von ihrer Neuheit, überhaupt von den Umständen ab,
unter denen eine Vorstellungsreihe auf eine andere Ein-
fluſs hat, und ein Object derselben wird.
Leibnizens Aufmerksamkeit auf die kleinen Vor-
stellungen, durch deren Hülfe er die Continuität der
geistigen Phänomene verfolgt, und denen er „mehr
Kraft als man denken sollte,“ zuschreibt, verräth
das Auge des Metaphysikers, dem es nicht genügt, nur
das anzuschauen, was auf dem Vorhange der Wahrneh-
mung zu sehn ist, sondern der hinter den Vorhang blickt,
und dort — nicht etwan erdichtete Seelenvermögen, son-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/75>, abgerufen am 25.11.2024.
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