ten Substraten, den Seelenvermögen, unterhalten. Locke durchsucht unsern ganzen Gedankenvorrath, und er un- ternimmt, sich darauf zu besinnen, wie wir zu jeder Art von Gedanken mögen gekommen seyn. Er hat hier we- nigstens in so fern vesten Grund, dass die Gedanken und Vorstellungsarten, von denen er redet, wirklich vorhan- den sind; diese kann man nicht, gleich den Seelenver- mögen, für Hirngespinnste erklären, denn man ist sich ihrer wirklich unmittelbar bewusst. Auch das, was er über die Entstehung dieser Gedanken sagt, kann dienen, uns an Vieles zu erinnern, was wir, mehr oder minder be- stimmt, von den geistigen Bewegungen innerlich wahrzu- nehmen vermögen. Freylich verräth sich dabey auch oft ge- nug die allgemeine Neigung, die Erfahrung durch Erschlei- chungen zu verunstalten, und besondere Anlagen nach Bequemlichkeit zu erdichten. Ein Beyspiel giebt das Ge- dächtniss. Dieses ist auch dem Locke eine "ability in the mind, when it will to revive them (die Vorstellungen) again" *). Und wenn man ja geneigt wäre, diese ability nicht für ein erdichtetes Vermögen, sondern für die blo- sse allgemeine Bezeichnung einer Classe von Thatsachen, ohne Erklärung derselben, zu halten: so verdirbt Locke alles an der Stelle, wo er des höchst merkwürdigen und ganz allgemeinen Phänomens erwähnt, dass wir nur eine sehr kleine Anzahl von Vorstellungen auf einmal im Be- wusstseyn gegenwärtig haben können. Hier spricht er von einer narrowness of the human mind, als von einer beson- dern Eigenthümlichkeit der menschlichen Anlage, und er- laubt sich die Hypothese, dass bey andern endli- chen Vernunftwesen dies wohl anders seyn könne! Wie gänzlich darin jede Ahndung einer rich- tigen psychologischen Ansicht verfehlt ist, wird hoffent- lich tiefer unten klar genug werden. Und doch ist dies völlig gemäss der gewohnten Weise, die Phänomene, die
man
*)Book II. Chap. X. §. 2.
ten Substraten, den Seelenvermögen, unterhalten. Locke durchsucht unsern ganzen Gedankenvorrath, und er un- ternimmt, sich darauf zu besinnen, wie wir zu jeder Art von Gedanken mögen gekommen seyn. Er hat hier we- nigstens in so fern vesten Grund, daſs die Gedanken und Vorstellungsarten, von denen er redet, wirklich vorhan- den sind; diese kann man nicht, gleich den Seelenver- mögen, für Hirngespinnste erklären, denn man ist sich ihrer wirklich unmittelbar bewuſst. Auch das, was er über die Entstehung dieser Gedanken sagt, kann dienen, uns an Vieles zu erinnern, was wir, mehr oder minder be- stimmt, von den geistigen Bewegungen innerlich wahrzu- nehmen vermögen. Freylich verräth sich dabey auch oft ge- nug die allgemeine Neigung, die Erfahrung durch Erschlei- chungen zu verunstalten, und besondere Anlagen nach Bequemlichkeit zu erdichten. Ein Beyspiel giebt das Ge- dächtniſs. Dieses ist auch dem Locke eine „ability in the mind, when it will to revive them (die Vorstellungen) again“ *). Und wenn man ja geneigt wäre, diese ability nicht für ein erdichtetes Vermögen, sondern für die blo- ſse allgemeine Bezeichnung einer Classe von Thatsachen, ohne Erklärung derselben, zu halten: so verdirbt Locke alles an der Stelle, wo er des höchst merkwürdigen und ganz allgemeinen Phänomens erwähnt, daſs wir nur eine sehr kleine Anzahl von Vorstellungen auf einmal im Be- wuſstseyn gegenwärtig haben können. Hier spricht er von einer narrowness of the human mind, als von einer beson- dern Eigenthümlichkeit der menschlichen Anlage, und er- laubt sich die Hypothese, daſs bey andern endli- chen Vernunftwesen dies wohl anders seyn könne! Wie gänzlich darin jede Ahndung einer rich- tigen psychologischen Ansicht verfehlt ist, wird hoffent- lich tiefer unten klar genug werden. Und doch ist dies völlig gemäſs der gewohnten Weise, die Phänomene, die
man
*)Book II. Chap. X. §. 2.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0068"n="48"/>
ten Substraten, den Seelenvermögen, unterhalten. <hirendition="#g">Locke</hi><lb/>
durchsucht unsern ganzen Gedankenvorrath, und er un-<lb/>
ternimmt, sich darauf zu besinnen, wie wir zu jeder Art<lb/>
von Gedanken mögen gekommen seyn. Er hat hier we-<lb/>
nigstens in so fern vesten Grund, daſs die Gedanken und<lb/>
Vorstellungsarten, von denen er redet, wirklich vorhan-<lb/>
den sind; diese kann man nicht, gleich den Seelenver-<lb/>
mögen, für Hirngespinnste erklären, denn man ist sich<lb/>
ihrer wirklich unmittelbar bewuſst. Auch das, was er über<lb/>
die Entstehung dieser Gedanken sagt, kann dienen, uns<lb/>
an Vieles zu erinnern, was wir, mehr oder minder be-<lb/>
stimmt, von den geistigen Bewegungen innerlich wahrzu-<lb/>
nehmen vermögen. Freylich verräth sich dabey auch oft ge-<lb/>
nug die allgemeine Neigung, die Erfahrung durch Erschlei-<lb/>
chungen zu verunstalten, und besondere Anlagen nach<lb/>
Bequemlichkeit zu erdichten. Ein Beyspiel giebt das Ge-<lb/>
dächtniſs. Dieses ist auch dem <hirendition="#g">Locke</hi> eine „<hirendition="#i">ability in<lb/>
the mind, when it will to revive them</hi> (die Vorstellungen)<lb/><hirendition="#i">again</hi>“<noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#i">Book II. Chap. X.</hi> §. 2.</note>. Und wenn man ja geneigt wäre, diese <hirendition="#i">ability</hi><lb/>
nicht für ein erdichtetes Vermögen, sondern für die blo-<lb/>ſse allgemeine Bezeichnung einer Classe von Thatsachen,<lb/>
ohne Erklärung derselben, zu halten: so verdirbt <hirendition="#g">Locke</hi><lb/>
alles an der Stelle, wo er des höchst merkwürdigen und<lb/>
ganz allgemeinen Phänomens erwähnt, daſs wir nur eine<lb/>
sehr kleine Anzahl von Vorstellungen auf einmal im Be-<lb/>
wuſstseyn gegenwärtig haben können. Hier spricht er von<lb/>
einer <hirendition="#i">narrowness of the human mind</hi>, als von einer beson-<lb/>
dern Eigenthümlichkeit der menschlichen Anlage, und er-<lb/>
laubt sich die Hypothese, <hirendition="#g">daſs bey andern endli-<lb/>
chen Vernunftwesen dies wohl anders seyn<lb/>
könne</hi>! Wie gänzlich darin jede Ahndung einer rich-<lb/>
tigen psychologischen Ansicht verfehlt ist, wird hoffent-<lb/>
lich tiefer unten klar genug werden. Und doch ist dies<lb/>
völlig gemäſs der gewohnten Weise, die Phänomene, die<lb/><fwplace="bottom"type="catch">man</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[48/0068]
ten Substraten, den Seelenvermögen, unterhalten. Locke
durchsucht unsern ganzen Gedankenvorrath, und er un-
ternimmt, sich darauf zu besinnen, wie wir zu jeder Art
von Gedanken mögen gekommen seyn. Er hat hier we-
nigstens in so fern vesten Grund, daſs die Gedanken und
Vorstellungsarten, von denen er redet, wirklich vorhan-
den sind; diese kann man nicht, gleich den Seelenver-
mögen, für Hirngespinnste erklären, denn man ist sich
ihrer wirklich unmittelbar bewuſst. Auch das, was er über
die Entstehung dieser Gedanken sagt, kann dienen, uns
an Vieles zu erinnern, was wir, mehr oder minder be-
stimmt, von den geistigen Bewegungen innerlich wahrzu-
nehmen vermögen. Freylich verräth sich dabey auch oft ge-
nug die allgemeine Neigung, die Erfahrung durch Erschlei-
chungen zu verunstalten, und besondere Anlagen nach
Bequemlichkeit zu erdichten. Ein Beyspiel giebt das Ge-
dächtniſs. Dieses ist auch dem Locke eine „ability in
the mind, when it will to revive them (die Vorstellungen)
again“ *). Und wenn man ja geneigt wäre, diese ability
nicht für ein erdichtetes Vermögen, sondern für die blo-
ſse allgemeine Bezeichnung einer Classe von Thatsachen,
ohne Erklärung derselben, zu halten: so verdirbt Locke
alles an der Stelle, wo er des höchst merkwürdigen und
ganz allgemeinen Phänomens erwähnt, daſs wir nur eine
sehr kleine Anzahl von Vorstellungen auf einmal im Be-
wuſstseyn gegenwärtig haben können. Hier spricht er von
einer narrowness of the human mind, als von einer beson-
dern Eigenthümlichkeit der menschlichen Anlage, und er-
laubt sich die Hypothese, daſs bey andern endli-
chen Vernunftwesen dies wohl anders seyn
könne! Wie gänzlich darin jede Ahndung einer rich-
tigen psychologischen Ansicht verfehlt ist, wird hoffent-
lich tiefer unten klar genug werden. Und doch ist dies
völlig gemäſs der gewohnten Weise, die Phänomene, die
man
*) Book II. Chap. X. §. 2.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/68>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.