neuern Psychologien zu demselben käme, würde sich über den Plan des Werks wundern können. Die Erwartung einer Abhandlung der verschiedenen Vermögen, die man dem Erkenntnissvermögen (als ob die Vermögen wie Ar- ten unter Gattungen enthalten wären) unterzuordnen pflegt, also die Erwartung einer Lehre von der Sinnlich- keit und so ferner bis zur Vernunft, würde sehr getäuscht werden. Nicht nur hat Locke, wie Tennemann (in der Uebersetzung von Degerando's Geschichte d. Phi- los. 1. Band, S. 226. in der Note) bemerkt, die vollstän- dige Aufzählung der Geistesvermögen nicht zum Gegen- stande seines Nachdenkens gemacht: -- sondern er er- scheint auf den ersten Anblick äusserst nachlässig in der Stellung dieser Geistesvermögen. Mitten im zweyten Buch, das überschrieben ist von den Ideen, handeln das neunte, zehnte und elfte Capitel von Wahrnehmung, Ge- dächtniss, Witz, Scharfsinn, Abstractionsvermögen; vor- her und nachher ist von einfachen und von zusammen- gesetzten Ideen die Rede. Dann aber findet sich viel weiter hin, nämlich im vierten Buch, das vierzehnte Ca- pitel von der Beurtheilungskraft, und nach eingeschobe- nen Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit, das siebenzehnte Capitel von der Vernunft. Man erräth so- gleich, dass diese scheinbare Unordnung von einem Plane herrührt, der die Aufzählung der Geistesvermögen aus- schliesst; und das erhellt auch aus dem Satze: alle unsre Ideen kommen von Sensation und Re- flexion, welche beyde Thätigkeiten bey Locke noch so ziemlich dem ähnlich sehen, was Andre Geistesvermö- gen nennen; aber auch grossentheils die Stelle der übri- gen Vermögen vertreten.
Jedoch die Hauptsache ist, dass Locke der ächten Erfahrung, um einen guten Schritt näher blieb, als Jene, die uns von ihren Abstractionen, und deren hinzugedach-
is called the understanding; und um so weniger habe ich das Wort understanding, wie gewöhnlich, durch Verstand übersetzen wollen.
neuern Psychologien zu demselben käme, würde sich über den Plan des Werks wundern können. Die Erwartung einer Abhandlung der verschiedenen Vermögen, die man dem Erkenntniſsvermögen (als ob die Vermögen wie Ar- ten unter Gattungen enthalten wären) unterzuordnen pflegt, also die Erwartung einer Lehre von der Sinnlich- keit und so ferner bis zur Vernunft, würde sehr getäuscht werden. Nicht nur hat Locke, wie Tennemann (in der Uebersetzung von Degerando’s Geschichte d. Phi- los. 1. Band, S. 226. in der Note) bemerkt, die vollstän- dige Aufzählung der Geistesvermögen nicht zum Gegen- stande seines Nachdenkens gemacht: — sondern er er- scheint auf den ersten Anblick äuſserst nachlässig in der Stellung dieser Geistesvermögen. Mitten im zweyten Buch, das überschrieben ist von den Ideen, handeln das neunte, zehnte und elfte Capitel von Wahrnehmung, Ge- dächtniſs, Witz, Scharfsinn, Abstractionsvermögen; vor- her und nachher ist von einfachen und von zusammen- gesetzten Ideen die Rede. Dann aber findet sich viel weiter hin, nämlich im vierten Buch, das vierzehnte Ca- pitel von der Beurtheilungskraft, und nach eingeschobe- nen Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit, das siebenzehnte Capitel von der Vernunft. Man erräth so- gleich, daſs diese scheinbare Unordnung von einem Plane herrührt, der die Aufzählung der Geistesvermögen aus- schlieſst; und das erhellt auch aus dem Satze: alle unsre Ideen kommen von Sensation und Re- flexion, welche beyde Thätigkeiten bey Locke noch so ziemlich dem ähnlich sehen, was Andre Geistesvermö- gen nennen; aber auch groſsentheils die Stelle der übri- gen Vermögen vertreten.
Jedoch die Hauptsache ist, daſs Locke der ächten Erfahrung, um einen guten Schritt näher blieb, als Jene, die uns von ihren Abstractionen, und deren hinzugedach-
is called the understanding; und um so weniger habe ich das Wort understanding, wie gewöhnlich, durch Verstand übersetzen wollen.
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neuern Psychologien zu demselben käme, würde sich über
den Plan des Werks wundern können. Die Erwartung
einer Abhandlung der verschiedenen Vermögen, die man
dem Erkenntniſsvermögen (als ob die Vermögen wie Ar-
ten unter Gattungen enthalten wären) unterzuordnen
pflegt, also die Erwartung einer Lehre von der Sinnlich-
keit und so ferner bis zur Vernunft, würde sehr getäuscht
werden. Nicht nur hat Locke, wie Tennemann (in
der Uebersetzung von Degerando’s Geschichte d. Phi-
los. 1. Band, S. 226. in der Note) bemerkt, die vollstän-
dige Aufzählung der Geistesvermögen nicht zum Gegen-
stande seines Nachdenkens gemacht: — sondern er er-
scheint auf den ersten Anblick äuſserst nachlässig in der
Stellung dieser Geistesvermögen. Mitten im zweyten Buch,
das überschrieben ist von den Ideen, handeln das
neunte, zehnte und elfte Capitel von Wahrnehmung, Ge-
dächtniſs, Witz, Scharfsinn, Abstractionsvermögen; vor-
her und nachher ist von einfachen und von zusammen-
gesetzten Ideen die Rede. Dann aber findet sich viel
weiter hin, nämlich im vierten Buch, das vierzehnte Ca-
pitel von der Beurtheilungskraft, und nach eingeschobe-
nen Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit, das
siebenzehnte Capitel von der Vernunft. Man erräth so-
gleich, daſs diese scheinbare Unordnung von einem Plane
herrührt, der die Aufzählung der Geistesvermögen aus-
schlieſst; und das erhellt auch aus dem Satze: alle
unsre Ideen kommen von Sensation und Re-
flexion, welche beyde Thätigkeiten bey Locke noch
so ziemlich dem ähnlich sehen, was Andre Geistesvermö-
gen nennen; aber auch groſsentheils die Stelle der übri-
gen Vermögen vertreten.
Jedoch die Hauptsache ist, daſs Locke der ächten
Erfahrung, um einen guten Schritt näher blieb, als Jene,
die uns von ihren Abstractionen, und deren hinzugedach-
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†) is called the understanding; und um so weniger habe ich das Wort
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/67>, abgerufen am 16.02.2025.
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