man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver- borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver- derben.
Im Allgemeinen jedoch ist Locke's Ansicht dem Feh- ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge- rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor- nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte, vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute, Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma- thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer- den. Schade, dass ihm das Haupt-Argument seiner Geg- ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr- heiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nou- veaux essays gegen ihn gelten macht, nicht in seiner ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar- gument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Erfahrung gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine und Nothwendige. Man schliesst auch noch richtig, es müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken- nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntnissvermö- gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Man- nigfaltigkeit der Anlage und die besondre Na- tur des Subjects, woraus man erklären will, dass dieses Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die- ser Nothwendigkeit unmittelbar in der Einheit des er- kennenden Wesens, ohne irgend eine weitere Be- stimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Man- nigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig
I. D
man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver- borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver- derben.
Im Allgemeinen jedoch ist Locke’s Ansicht dem Feh- ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge- rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor- nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte, vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute, Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma- thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer- den. Schade, daſs ihm das Haupt-Argument seiner Geg- ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr- heiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nou- veaux essays gegen ihn gelten macht, nicht in seiner ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar- gument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Erfahrung gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine und Nothwendige. Man schlieſst auch noch richtig, es müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken- nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntniſsvermö- gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Man- nigfaltigkeit der Anlage und die besondre Na- tur des Subjects, woraus man erklären will, daſs dieses Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die- ser Nothwendigkeit unmittelbar in der Einheit des er- kennenden Wesens, ohne irgend eine weitere Be- stimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Man- nigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig
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man als Principien benutzen sollte, durch Erdichtung ver-
borgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu ver-
derben.
Im Allgemeinen jedoch ist Locke’s Ansicht dem Feh-
ler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, ge-
rade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebor-
nen Ideen, wollte er die Seele von der Mannigfaltigkeit
dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte,
vielmehr befreyen; um für eine, auf Erfahrung gebaute,
Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer ma-
thematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer
pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen wer-
den. Schade, daſs ihm das Haupt-Argument seiner Geg-
ner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahr-
heiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nou-
veaux essays gegen ihn gelten macht, nicht in seiner
ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Ar-
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gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine
und Nothwendige. Man schlieſst auch noch richtig, es
müsse das letztre auf der Eigenthümlichkeit des erken-
nenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die
Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntniſsvermö-
gens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit
einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Man-
nigfaltigkeit der Anlage und die besondre Na-
tur des Subjects, woraus man erklären will, daſs dieses
Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele
nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem
Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob
nicht die Nothwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur
von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund die-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/69>, abgerufen am 22.11.2024.
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