Und wenn Sokrates wirklich glaubte, mit dem gnothi sauton leichter fertig zu werden, als mit jenen Nachforschungen, die ihm zu verwegen schienen, so war er in einer mäch- tig grossen Täuschung befangen.
Er hatte vergessen, dass es nicht sowohl auf die Di- stanz eines Gegenstandes von uns, sondern auf das Auge ankommt, welches wir für ihn haben. Das sinnliche Auge sieht mit einer Genauigkeit, die sich einer mathemati- schen Bestimmtheit nahe bringen lässt, und es pflegt sei- nen Gegenstand nicht selbst zu entstellen; aber die in- nere Wahrnehmung unterliegt diesem Vorwurfe und ent- behrt jenes Vortheils. Es ist wahr, die sinnlichen Ge- genstände wechseln, sie entstehn und vergehen; aber wir selbst mit unsern Gemüthszuständen sind noch weit un- beständiger als irgend ein äusserer Wechsel. Man muss gestehen, dass die sinnlichen Merkmale der Dinge keines- weges für reale Qualitäten gelten können; aber wenn die Dinge nur in so fern sie uns erscheinen, sich mit Merk- malen bekleiden, so ist es eben so wahr, dass auch wir selbst nur erkennen, wollen und fühlen, in wie fern uns Objecte gegenüber treten, als Zielpuncte unseres An- schauens und Begehrens; Objecte, von deren Jedem ein- zeln genommen wir schon im gemeinen Leben beken- nen, dass es uns nur zufällig begegne. Denn wir lassen dieselben Gegenstände gar nicht für Bedingungen unse- res Daseyns gelten, von denen doch nicht zu leugnen ist, dass sie unser ganzes Wissen um uns selbst bedin- gen. Und während nun dieses Wissen von uns selbst eben so durch Relationen auf das Aeussere afficirt ist, wie das Erkennen der Aussendinge durch die Relation auf uns: vermischt sich jenes sehr leicht mit Einbildun- gen aller Art, von denen dieses viel freyer ist. Das Brü- ten über sich selbst erzeugt Schwärmer; die Beschäffti- gung mit dem was draussen vorgeht, vermag Schwärmer zu heilen.
Allen diesen bekannten Wahrheiten zum Trotz nun hat man dennoch gemeint, und meint noch heute, man
Und wenn Sokrates wirklich glaubte, mit dem γνωϑι σαυτον leichter fertig zu werden, als mit jenen Nachforschungen, die ihm zu verwegen schienen, so war er in einer mäch- tig groſsen Täuschung befangen.
Er hatte vergessen, daſs es nicht sowohl auf die Di- stanz eines Gegenstandes von uns, sondern auf das Auge ankommt, welches wir für ihn haben. Das sinnliche Auge sieht mit einer Genauigkeit, die sich einer mathemati- schen Bestimmtheit nahe bringen läſst, und es pflegt sei- nen Gegenstand nicht selbst zu entstellen; aber die in- nere Wahrnehmung unterliegt diesem Vorwurfe und ent- behrt jenes Vortheils. Es ist wahr, die sinnlichen Ge- genstände wechseln, sie entstehn und vergehen; aber wir selbst mit unsern Gemüthszuständen sind noch weit un- beständiger als irgend ein äuſserer Wechsel. Man muſs gestehen, daſs die sinnlichen Merkmale der Dinge keines- weges für reale Qualitäten gelten können; aber wenn die Dinge nur in so fern sie uns erscheinen, sich mit Merk- malen bekleiden, so ist es eben so wahr, daſs auch wir selbst nur erkennen, wollen und fühlen, in wie fern uns Objecte gegenüber treten, als Zielpuncte unseres An- schauens und Begehrens; Objecte, von deren Jedem ein- zeln genommen wir schon im gemeinen Leben beken- nen, daſs es uns nur zufällig begegne. Denn wir lassen dieselben Gegenstände gar nicht für Bedingungen unse- res Daseyns gelten, von denen doch nicht zu leugnen ist, daſs sie unser ganzes Wissen um uns selbst bedin- gen. Und während nun dieses Wissen von uns selbst eben so durch Relationen auf das Aeuſsere afficirt ist, wie das Erkennen der Auſsendinge durch die Relation auf uns: vermischt sich jenes sehr leicht mit Einbildun- gen aller Art, von denen dieses viel freyer ist. Das Brü- ten über sich selbst erzeugt Schwärmer; die Beschäffti- gung mit dem was drauſsen vorgeht, vermag Schwärmer zu heilen.
Allen diesen bekannten Wahrheiten zum Trotz nun hat man dennoch gemeint, und meint noch heute, man
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Und wenn Sokrates wirklich glaubte, mit dem γνωϑι σαυτον
leichter fertig zu werden, als mit jenen Nachforschungen,
die ihm zu verwegen schienen, so war er in einer mäch-
tig groſsen Täuschung befangen.
Er hatte vergessen, daſs es nicht sowohl auf die Di-
stanz eines Gegenstandes von uns, sondern auf das Auge
ankommt, welches wir für ihn haben. Das sinnliche Auge
sieht mit einer Genauigkeit, die sich einer mathemati-
schen Bestimmtheit nahe bringen läſst, und es pflegt sei-
nen Gegenstand nicht selbst zu entstellen; aber die in-
nere Wahrnehmung unterliegt diesem Vorwurfe und ent-
behrt jenes Vortheils. Es ist wahr, die sinnlichen Ge-
genstände wechseln, sie entstehn und vergehen; aber wir
selbst mit unsern Gemüthszuständen sind noch weit un-
beständiger als irgend ein äuſserer Wechsel. Man muſs
gestehen, daſs die sinnlichen Merkmale der Dinge keines-
weges für reale Qualitäten gelten können; aber wenn die
Dinge nur in so fern sie uns erscheinen, sich mit Merk-
malen bekleiden, so ist es eben so wahr, daſs auch wir
selbst nur erkennen, wollen und fühlen, in wie fern uns
Objecte gegenüber treten, als Zielpuncte unseres An-
schauens und Begehrens; Objecte, von deren Jedem ein-
zeln genommen wir schon im gemeinen Leben beken-
nen, daſs es uns nur zufällig begegne. Denn wir lassen
dieselben Gegenstände gar nicht für Bedingungen unse-
res Daseyns gelten, von denen doch nicht zu leugnen
ist, daſs sie unser ganzes Wissen um uns selbst bedin-
gen. Und während nun dieses Wissen von uns selbst
eben so durch Relationen auf das Aeuſsere afficirt ist,
wie das Erkennen der Auſsendinge durch die Relation
auf uns: vermischt sich jenes sehr leicht mit Einbildun-
gen aller Art, von denen dieses viel freyer ist. Das Brü-
ten über sich selbst erzeugt Schwärmer; die Beschäffti-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/62>, abgerufen am 24.11.2024.
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