Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht verstanden werde, so dass hieraus sich die ursprüng-
liche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes
Verstand ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück-
kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor-
stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.

Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B
sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande
kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A aus-
gehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander
nicht dergestalt hemmen, dass ihr ferneres Ablaufen da-
durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf
A und B zurück, und die Complication muss unterbleiben.
Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte
ihres Zusammenstossens würde aufgehalten, so würde
die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden,
und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen
hervorträte und sie zerstörte. Dass diese Art der vor-
läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche
des Traums ausmacht, lässt sich leicht übersehen; das-
selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, dass hier
das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran-
ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens
bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden;
so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs-
reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch
zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver-
bindung allmählig verscheucht wird.

Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so-
gleich, dass jedes gesprochene Wort für den Hörer ein
Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in ein-
ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden
werden. Alles, was diesen Process der Verwebung hin-
dert, macht die Rede unverständlich.

Aber die Sprache liegt nicht bloss in den Worten,
sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth
das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt;
und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in-

A a 2

nicht verstanden werde, so daſs hieraus sich die ursprüng-
liche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes
Verstand ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück-
kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor-
stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.

Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B
sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande
kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A aus-
gehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander
nicht dergestalt hemmen, daſs ihr ferneres Ablaufen da-
durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf
A und B zurück, und die Complication muſs unterbleiben.
Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte
ihres Zusammenstoſsens würde aufgehalten, so würde
die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden,
und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen
hervorträte und sie zerstörte. Daſs diese Art der vor-
läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche
des Traums ausmacht, läſst sich leicht übersehen; das-
selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, daſs hier
das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran-
ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens
bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden;
so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs-
reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch
zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver-
bindung allmählig verscheucht wird.

Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so-
gleich, daſs jedes gesprochene Wort für den Hörer ein
Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in ein-
ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden
werden. Alles, was diesen Proceſs der Verwebung hin-
dert, macht die Rede unverständlich.

Aber die Sprache liegt nicht bloſs in den Worten,
sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth
das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt;
und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in-

A a 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0391" n="371"/>
nicht verstanden werde, so da&#x017F;s hieraus sich die ursprüng-<lb/>
liche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes<lb/><hi rendition="#g">Verstand</hi> ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück-<lb/>
kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor-<lb/>
stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.</p><lb/>
              <p>Eine Complexion aus den Vorstellungen <hi rendition="#i">A</hi> und <hi rendition="#i">B</hi><lb/>
sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande<lb/>
kommen soll, so müssen die Reihen, welche von <hi rendition="#i">A</hi> aus-<lb/>
gehn, und die, welche an <hi rendition="#i">B</hi> geknüpft sind, einander<lb/>
nicht dergestalt hemmen, da&#x017F;s ihr ferneres Ablaufen da-<lb/>
durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf<lb/><hi rendition="#i">A</hi> und <hi rendition="#i">B</hi> zurück, und die Complication mu&#x017F;s unterbleiben.<lb/>
Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte<lb/>
ihres Zusammensto&#x017F;sens würde aufgehalten, so würde<lb/>
die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden,<lb/>
und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen<lb/>
hervorträte und sie zerstörte. Da&#x017F;s diese Art der vor-<lb/>
läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche<lb/>
des <hi rendition="#g">Traums</hi> ausmacht, lä&#x017F;st sich leicht übersehen; das-<lb/>
selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, da&#x017F;s hier<lb/>
das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran-<lb/>
ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens<lb/>
bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden;<lb/>
so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs-<lb/>
reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch<lb/>
zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver-<lb/>
bindung allmählig verscheucht wird.</p><lb/>
              <p>Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so-<lb/>
gleich, da&#x017F;s <hi rendition="#g">jedes</hi> gesprochene Wort für den Hörer ein<lb/>
Anfangspunct von Reihen ist, welche sich <hi rendition="#g">alle</hi> in ein-<lb/>
ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden<lb/>
werden. Alles, was diesen Proce&#x017F;s der Verwebung hin-<lb/>
dert, macht die Rede unverständlich.</p><lb/>
              <p>Aber die Sprache liegt nicht blo&#x017F;s in den Worten,<lb/>
sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth<lb/>
das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt;<lb/>
und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A a 2</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[371/0391] nicht verstanden werde, so daſs hieraus sich die ursprüng- liche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes Verstand ergebe. Hierauf werden wir sogleich zurück- kommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vor- stellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten. Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A aus- gehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander nicht dergestalt hemmen, daſs ihr ferneres Ablaufen da- durch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf A und B zurück, und die Complication muſs unterbleiben. Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte ihres Zusammenstoſsens würde aufgehalten, so würde die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden, und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen hervorträte und sie zerstörte. Daſs diese Art der vor- läufigen, aber unbaltbaren Complication, das Wesentliche des Traums ausmacht, läſst sich leicht übersehen; das- selbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, daſs hier das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kran- ken verzögert, während die Träume nur des Aufwachens bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden; so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungs- reihen noch kurz, und mangelhaft verknüpft sind, durch zunehmende Erfahrung und durch reifere Gedanken-Ver- bindung allmählig verscheucht wird. Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir so- gleich, daſs jedes gesprochene Wort für den Hörer ein Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in ein- ander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden werden. Alles, was diesen Proceſs der Verwebung hin- dert, macht die Rede unverständlich. Aber die Sprache liegt nicht bloſs in den Worten, sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth das Verborgene, indem er den Zusammenhang ergänzt; und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in- A a 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/391
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/391>, abgerufen am 22.11.2024.