dem er den Lauf der Begebenheiten vorwärts und rück- wärts in Gedanken verfolgt. Es ist klar, dass hiebey al- les auf das Zusammenwirken seiner Vorstellungsreihen ankommt; gleichviel ob vom praktischen oder vom theo- retischen Verstande die Rede ist. Man kann dem Ver- stande zwey Dimensionen zuschreiben: Weite und Tiefe. Die Weite hängt ab von der Menge und Man- nigfaltigkeit solcher Reihen, deren Partial-Vorstellungen möglichst genau, und ohne Verwirrung, verschmolzen und geordnet seyen; die Tiefe bezieht sich auf die Re- production der gleichartigen Vorstellungen, wodurch sie Begriffe sind. Oberflächliche Menschen reproduciren heute nur das Gestrige und Vorgestrige; bey tiefen Cha- rakteren bewegt jeder Gedanke den Stamm des ganzen frühern Lebens.
Für die Sprache sind alle Begriffe, als solche, Sub- stantiva; das Gehen und Stehen eben sowohl als der Baum und das Haus; das Wenn und das Aber eben so gut wie das Süsse und das Kalte. Aber keine unserer Vor- stellungen ist bloss und ursprünglich ein Begriff; eine jede, wie sehr sie auch isolirt zu seyn scheine, hängt noch immer in allen ihren, wie sehr auch verdunkelten, Verbindungen; darum liegt in jeder ein mannigfaltiges Weiterstreben, so wie es oben (im vorigen §.) be- schrieben wurde. In diesem Weiterstreben müssen die Gedanken sich gegenseitig tragen und halten; darum biegt die Sprache ihre Worte, und baut daraus Perio- den. Hiezu dienen ihr vorzüglich ihre verba activa und passiva; ohne uns aber bey den Worten weiter aufzu- halten, müssen wir noch einen Blick werfen auf die Be- griffe des Thuns und Leidens; und wir werden dar- auf sogleich kommen, nachdem wir noch zuvor angemerkt haben, dass die Bildung der Perioden auf dem Gegen- satze des Ja und Nein (auf der sogenannten Qualität des Urtheils) beruht, und dieses wiederum ein mög- liches Schweben zwischen Ja und Nein voraussetzt. Das Nein, welches gewiss kein Erfahrungsbegriff seyn
dem er den Lauf der Begebenheiten vorwärts und rück- wärts in Gedanken verfolgt. Es ist klar, daſs hiebey al- les auf das Zusammenwirken seiner Vorstellungsreihen ankommt; gleichviel ob vom praktischen oder vom theo- retischen Verstande die Rede ist. Man kann dem Ver- stande zwey Dimensionen zuschreiben: Weite und Tiefe. Die Weite hängt ab von der Menge und Man- nigfaltigkeit solcher Reihen, deren Partial-Vorstellungen möglichst genau, und ohne Verwirrung, verschmolzen und geordnet seyen; die Tiefe bezieht sich auf die Re- production der gleichartigen Vorstellungen, wodurch sie Begriffe sind. Oberflächliche Menschen reproduciren heute nur das Gestrige und Vorgestrige; bey tiefen Cha- rakteren bewegt jeder Gedanke den Stamm des ganzen frühern Lebens.
Für die Sprache sind alle Begriffe, als solche, Sub- stantiva; das Gehen und Stehen eben sowohl als der Baum und das Haus; das Wenn und das Aber eben so gut wie das Süſse und das Kalte. Aber keine unserer Vor- stellungen ist bloſs und ursprünglich ein Begriff; eine jede, wie sehr sie auch isolirt zu seyn scheine, hängt noch immer in allen ihren, wie sehr auch verdunkelten, Verbindungen; darum liegt in jeder ein mannigfaltiges Weiterstreben, so wie es oben (im vorigen §.) be- schrieben wurde. In diesem Weiterstreben müssen die Gedanken sich gegenseitig tragen und halten; darum biegt die Sprache ihre Worte, und baut daraus Perio- den. Hiezu dienen ihr vorzüglich ihre verba activa und passiva; ohne uns aber bey den Worten weiter aufzu- halten, müssen wir noch einen Blick werfen auf die Be- griffe des Thuns und Leidens; und wir werden dar- auf sogleich kommen, nachdem wir noch zuvor angemerkt haben, daſs die Bildung der Perioden auf dem Gegen- satze des Ja und Nein (auf der sogenannten Qualität des Urtheils) beruht, und dieses wiederum ein mög- liches Schweben zwischen Ja und Nein voraussetzt. Das Nein, welches gewiſs kein Erfahrungsbegriff seyn
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dem er den Lauf der Begebenheiten vorwärts und rück-
wärts in Gedanken verfolgt. Es ist klar, daſs hiebey al-
les auf das Zusammenwirken seiner Vorstellungsreihen
ankommt; gleichviel ob vom praktischen oder vom theo-
retischen Verstande die Rede ist. Man kann dem Ver-
stande zwey Dimensionen zuschreiben: Weite und
Tiefe. Die Weite hängt ab von der Menge und Man-
nigfaltigkeit solcher Reihen, deren Partial-Vorstellungen
möglichst genau, und ohne Verwirrung, verschmolzen
und geordnet seyen; die Tiefe bezieht sich auf die Re-
production der gleichartigen Vorstellungen, wodurch sie
Begriffe sind. Oberflächliche Menschen reproduciren
heute nur das Gestrige und Vorgestrige; bey tiefen Cha-
rakteren bewegt jeder Gedanke den Stamm des ganzen
frühern Lebens.
Für die Sprache sind alle Begriffe, als solche, Sub-
stantiva; das Gehen und Stehen eben sowohl als der Baum
und das Haus; das Wenn und das Aber eben so gut
wie das Süſse und das Kalte. Aber keine unserer Vor-
stellungen ist bloſs und ursprünglich ein Begriff; eine
jede, wie sehr sie auch isolirt zu seyn scheine, hängt
noch immer in allen ihren, wie sehr auch verdunkelten,
Verbindungen; darum liegt in jeder ein mannigfaltiges
Weiterstreben, so wie es oben (im vorigen §.) be-
schrieben wurde. In diesem Weiterstreben müssen die
Gedanken sich gegenseitig tragen und halten; darum
biegt die Sprache ihre Worte, und baut daraus Perio-
den. Hiezu dienen ihr vorzüglich ihre verba activa und
passiva; ohne uns aber bey den Worten weiter aufzu-
halten, müssen wir noch einen Blick werfen auf die Be-
griffe des Thuns und Leidens; und wir werden dar-
auf sogleich kommen, nachdem wir noch zuvor angemerkt
haben, daſs die Bildung der Perioden auf dem Gegen-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/392>, abgerufen am 22.11.2024.
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