Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

derstand; sie kann sich im Bewusstseyn nicht lange hal-
ten, sondern erliegt gar leicht unter der Last ihrer Ver-
bindungen.

(Dies ist die eigenthümliche Schwierigkeit, welche
sich bei Menschen ohne wissenschaftliche Bildung dann
äussert, wann sie allgemeine Begriffe vesthalten sollen.
Die Gedanken vergehn ihnen; sie wissen gar bald nicht
mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gäh-
nen. Umgekehrt erhellet hieraus die Kraft der Beyspiele,
das Denken zu unterstützen, indem jedes derselben eine
bestimmte Reihe veststellt, und den Widerstand der
übrigen abwehrt.)

Gleichwohl bereitet sich durch den eben erwähnten
Hemmungs-Process ein wichtiger Fortschritt in der gei-
stigen Bildung. Ist nämlich die Hauptvorstellung nur ge-
hörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Ver-
schmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft
sie gegeben wurde (vergl. §. 85.), und hat nur nicht ir-
gend ein physiologisches Hinderniss diese Verschmelzun-
gen verkümmert (wie bey Kranken, bey Blödsinnigen,
oder schon bey schwachen Köpfen), so giebt ihr die häu-
fige Wiederhohlung unter verschiedenen Umständen den-
noch Kraft genug, um in der Mitte andrer Vorstellungen
einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie nun
beinahe isolirt, weil das Ablaufen der ihr anhängenden,
sich unter einander hemmenden, Reihen nicht mehr merk-
lich ist. Sie ist also abgelöset von ihren zufälligen Ver-
bindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstellungen
dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen
treten, die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem
Vorgestellten, abhängen; kurz, sie können sich nach
ihrer Qualität verknüpfen. In so fern aber werden sie
dem Verstande zugeschrieben, und heissen Begriffe.

Man kann von den Begriffen auch sagen, sie seyen
die Vorstellungen in dem Zustande, worin sie unmittel-
bar an die Sprache geknüpft seyen; und von der Spra-
che: sie sey ganz eigentlich das, was verstanden oder

derstand; sie kann sich im Bewuſstseyn nicht lange hal-
ten, sondern erliegt gar leicht unter der Last ihrer Ver-
bindungen.

(Dies ist die eigenthümliche Schwierigkeit, welche
sich bei Menschen ohne wissenschaftliche Bildung dann
äuſsert, wann sie allgemeine Begriffe vesthalten sollen.
Die Gedanken vergehn ihnen; sie wissen gar bald nicht
mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gäh-
nen. Umgekehrt erhellet hieraus die Kraft der Beyspiele,
das Denken zu unterstützen, indem jedes derselben eine
bestimmte Reihe veststellt, und den Widerstand der
übrigen abwehrt.)

Gleichwohl bereitet sich durch den eben erwähnten
Hemmungs-Proceſs ein wichtiger Fortschritt in der gei-
stigen Bildung. Ist nämlich die Hauptvorstellung nur ge-
hörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Ver-
schmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft
sie gegeben wurde (vergl. §. 85.), und hat nur nicht ir-
gend ein physiologisches Hinderniſs diese Verschmelzun-
gen verkümmert (wie bey Kranken, bey Blödsinnigen,
oder schon bey schwachen Köpfen), so giebt ihr die häu-
fige Wiederhohlung unter verschiedenen Umständen den-
noch Kraft genug, um in der Mitte andrer Vorstellungen
einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie nun
beinahe isolirt, weil das Ablaufen der ihr anhängenden,
sich unter einander hemmenden, Reihen nicht mehr merk-
lich ist. Sie ist also abgelöset von ihren zufälligen Ver-
bindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstellungen
dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen
treten, die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem
Vorgestellten, abhängen; kurz, sie können sich nach
ihrer Qualität verknüpfen. In so fern aber werden sie
dem Verstande zugeschrieben, und heiſsen Begriffe.

Man kann von den Begriffen auch sagen, sie seyen
die Vorstellungen in dem Zustande, worin sie unmittel-
bar an die Sprache geknüpft seyen; und von der Spra-
che: sie sey ganz eigentlich das, was verstanden oder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0390" n="370"/>
derstand; sie kann sich im Bewu&#x017F;stseyn nicht lange hal-<lb/>
ten, sondern erliegt gar leicht unter der Last ihrer Ver-<lb/>
bindungen.</p><lb/>
              <p>(Dies ist die eigenthümliche Schwierigkeit, welche<lb/>
sich bei Menschen ohne wissenschaftliche Bildung dann<lb/>
äu&#x017F;sert, wann sie allgemeine Begriffe vesthalten sollen.<lb/>
Die Gedanken vergehn ihnen; sie wissen gar bald nicht<lb/>
mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gäh-<lb/>
nen. Umgekehrt erhellet hieraus die Kraft der Beyspiele,<lb/>
das Denken zu unterstützen, indem jedes derselben eine<lb/>
bestimmte Reihe veststellt, und den Widerstand der<lb/>
übrigen abwehrt.)</p><lb/>
              <p>Gleichwohl bereitet sich durch den eben erwähnten<lb/>
Hemmungs-Proce&#x017F;s ein wichtiger Fortschritt in der gei-<lb/>
stigen Bildung. Ist nämlich die Hauptvorstellung nur ge-<lb/>
hörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Ver-<lb/>
schmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft<lb/>
sie gegeben wurde (vergl. §. 85.), und hat nur nicht ir-<lb/>
gend ein physiologisches Hinderni&#x017F;s diese Verschmelzun-<lb/>
gen verkümmert (wie bey Kranken, bey Blödsinnigen,<lb/>
oder schon bey schwachen Köpfen), so giebt ihr die häu-<lb/>
fige Wiederhohlung unter verschiedenen Umständen den-<lb/>
noch Kraft genug, um in der Mitte andrer Vorstellungen<lb/>
einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie nun<lb/>
beinahe <hi rendition="#g">isolirt</hi>, weil das Ablaufen der ihr anhängenden,<lb/>
sich unter einander hemmenden, Reihen nicht mehr merk-<lb/>
lich ist. Sie ist also abgelöset von ihren zufälligen Ver-<lb/>
bindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstellungen<lb/>
dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen<lb/>
treten, die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem<lb/>
Vorgestellten, abhängen; kurz, sie können sich nach<lb/>
ihrer <hi rendition="#g">Qualität</hi> verknüpfen. In so fern aber werden sie<lb/>
dem <hi rendition="#g">Verstande</hi> zugeschrieben, und hei&#x017F;sen <hi rendition="#g">Begriffe</hi>.</p><lb/>
              <p>Man kann von den Begriffen auch sagen, sie seyen<lb/>
die Vorstellungen in dem Zustande, worin sie unmittel-<lb/>
bar an die <hi rendition="#g">Sprache</hi> geknüpft seyen; und von der Spra-<lb/>
che: sie sey ganz eigentlich das, was verstanden oder<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[370/0390] derstand; sie kann sich im Bewuſstseyn nicht lange hal- ten, sondern erliegt gar leicht unter der Last ihrer Ver- bindungen. (Dies ist die eigenthümliche Schwierigkeit, welche sich bei Menschen ohne wissenschaftliche Bildung dann äuſsert, wann sie allgemeine Begriffe vesthalten sollen. Die Gedanken vergehn ihnen; sie wissen gar bald nicht mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gäh- nen. Umgekehrt erhellet hieraus die Kraft der Beyspiele, das Denken zu unterstützen, indem jedes derselben eine bestimmte Reihe veststellt, und den Widerstand der übrigen abwehrt.) Gleichwohl bereitet sich durch den eben erwähnten Hemmungs-Proceſs ein wichtiger Fortschritt in der gei- stigen Bildung. Ist nämlich die Hauptvorstellung nur ge- hörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Ver- schmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft sie gegeben wurde (vergl. §. 85.), und hat nur nicht ir- gend ein physiologisches Hinderniſs diese Verschmelzun- gen verkümmert (wie bey Kranken, bey Blödsinnigen, oder schon bey schwachen Köpfen), so giebt ihr die häu- fige Wiederhohlung unter verschiedenen Umständen den- noch Kraft genug, um in der Mitte andrer Vorstellungen einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie nun beinahe isolirt, weil das Ablaufen der ihr anhängenden, sich unter einander hemmenden, Reihen nicht mehr merk- lich ist. Sie ist also abgelöset von ihren zufälligen Ver- bindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstellungen dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen treten, die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem Vorgestellten, abhängen; kurz, sie können sich nach ihrer Qualität verknüpfen. In so fern aber werden sie dem Verstande zugeschrieben, und heiſsen Begriffe. Man kann von den Begriffen auch sagen, sie seyen die Vorstellungen in dem Zustande, worin sie unmittel- bar an die Sprache geknüpft seyen; und von der Spra- che: sie sey ganz eigentlich das, was verstanden oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/390
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/390>, abgerufen am 22.11.2024.