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Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831.

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Texte unterdichtend; dann und wann schweifen
meine Blicke durch die dämmernden Bogengänge,
und suchen die dunkeln Klangfiguren, die zu jenen
Orgelmelodien gehören. Wer ist die Verschleyerte,
die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna?
Die Ampel, die davor hängt, beleuchtet grauen¬
haft süß die schöne Schmerzenmutter einer gekreu-
zigten Liebe, die Venus dolorosa; doch kupplerisch
geheimnißvolle Lichter fallen zuweilen, wie verstolen,
auf die schönen Formen der verschleyerten Bete¬
rin. Diese liegt zwar regungslos auf den steiner¬
nen Altarstufen, doch in der wechselnden Beleuch¬
tung bewegt sich ihr Schatten, läuft manchmal
zu mir heran, zieht sich wieder hastig zurück, wie
ein stummer Mohr, der ängstliche Liebesbote in
einem Harem -- und ich verstehe ihn. Er ver¬
kündet mir die Gegenwart seiner Herrinn, der
Sultaninn meines Herzens.

Es wird aber allmählig immer dunkler im lee¬
ren Hause, hie und da huscht eine unbestimmte

Texte unterdichtend; dann und wann ſchweifen
meine Blicke durch die daͤmmernden Bogengaͤnge,
und ſuchen die dunkeln Klangfiguren, die zu jenen
Orgelmelodien gehoͤren. Wer iſt die Verſchleyerte,
die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna?
Die Ampel, die davor haͤngt, beleuchtet grauen¬
haft ſuͤß die ſchoͤne Schmerzenmutter einer gekreu-
zigten Liebe, die Venus doloroſa; doch kuppleriſch
geheimnißvolle Lichter fallen zuweilen, wie verſtolen,
auf die ſchoͤnen Formen der verſchleyerten Bete¬
rin. Dieſe liegt zwar regungslos auf den ſteiner¬
nen Altarſtufen, doch in der wechſelnden Beleuch¬
tung bewegt ſich ihr Schatten, laͤuft manchmal
zu mir heran, zieht ſich wieder haſtig zuruͤck, wie
ein ſtummer Mohr, der aͤngſtliche Liebesbote in
einem Harem — und ich verſtehe ihn. Er ver¬
kuͤndet mir die Gegenwart ſeiner Herrinn, der
Sultaninn meines Herzens.

Es wird aber allmaͤhlig immer dunkler im lee¬
ren Hauſe, hie und da huſcht eine unbeſtimmte

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[45/0059] Texte unterdichtend; dann und wann ſchweifen meine Blicke durch die daͤmmernden Bogengaͤnge, und ſuchen die dunkeln Klangfiguren, die zu jenen Orgelmelodien gehoͤren. Wer iſt die Verſchleyerte, die dort kniet vor dem Bilde einer Madonna? Die Ampel, die davor haͤngt, beleuchtet grauen¬ haft ſuͤß die ſchoͤne Schmerzenmutter einer gekreu- zigten Liebe, die Venus doloroſa; doch kuppleriſch geheimnißvolle Lichter fallen zuweilen, wie verſtolen, auf die ſchoͤnen Formen der verſchleyerten Bete¬ rin. Dieſe liegt zwar regungslos auf den ſteiner¬ nen Altarſtufen, doch in der wechſelnden Beleuch¬ tung bewegt ſich ihr Schatten, laͤuft manchmal zu mir heran, zieht ſich wieder haſtig zuruͤck, wie ein ſtummer Mohr, der aͤngſtliche Liebesbote in einem Harem — und ich verſtehe ihn. Er ver¬ kuͤndet mir die Gegenwart ſeiner Herrinn, der Sultaninn meines Herzens. Es wird aber allmaͤhlig immer dunkler im lee¬ ren Hauſe, hie und da huſcht eine unbeſtimmte

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/59>, abgerufen am 27.04.2024.