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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830.

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wildfremden Erscheinung, es war schon der ruhige
Geist, der, wie ein wahrer Kritiker ein Gedicht
liest, jene Frauenbilder mit entzückt besonnenem
Auge betrachtete. Und bei solcher Betrachtung
entdeckt man viel, viel Trübes, den Reichthum
der Vergangenheit, die Armuth der Gegenwart
und den zurückgebliebenen Stolz. Gern möchten
die Töchter Trients sich noch schmücken wie zu
den Zeiten des Konziliums, wo die Stadt blühte
in Sammt und Seide; aber das Konzilium hat
wenig ausgerichtet, der Sammt ist abgeschabt,
die Seide zerfetzt, und den armen Kindern blieb
nichts als kümmerlicher Flitterstaat, den sie in
der Woche ängstlich schonen, und womit sie sich
nur noch des Sonntags putzen. Manche aber
entbehren auch dieser Reste eines verschollenen
Luxus, und müssen sich mit allerlei ordinairen
und wohlfeilen Fabrikaten unsers Zeitalters be¬
helfen. Da giebt es nun gar rührende Contraste
zwischen Leib und Kleid; der feingeschnittene

wildfremden Erſcheinung, es war ſchon der ruhige
Geiſt, der, wie ein wahrer Kritiker ein Gedicht
lieſt, jene Frauenbilder mit entzuͤckt beſonnenem
Auge betrachtete. Und bei ſolcher Betrachtung
entdeckt man viel, viel Truͤbes, den Reichthum
der Vergangenheit, die Armuth der Gegenwart
und den zuruͤckgebliebenen Stolz. Gern moͤchten
die Toͤchter Trients ſich noch ſchmuͤcken wie zu
den Zeiten des Konziliums, wo die Stadt bluͤhte
in Sammt und Seide; aber das Konzilium hat
wenig ausgerichtet, der Sammt iſt abgeſchabt,
die Seide zerfetzt, und den armen Kindern blieb
nichts als kuͤmmerlicher Flitterſtaat, den ſie in
der Woche aͤngſtlich ſchonen, und womit ſie ſich
nur noch des Sonntags putzen. Manche aber
entbehren auch dieſer Reſte eines verſchollenen
Luxus, und muͤſſen ſich mit allerlei ordinairen
und wohlfeilen Fabrikaten unſers Zeitalters be¬
helfen. Da giebt es nun gar ruͤhrende Contraſte
zwiſchen Leib und Kleid; der feingeſchnittene

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[104/0112] wildfremden Erſcheinung, es war ſchon der ruhige Geiſt, der, wie ein wahrer Kritiker ein Gedicht lieſt, jene Frauenbilder mit entzuͤckt beſonnenem Auge betrachtete. Und bei ſolcher Betrachtung entdeckt man viel, viel Truͤbes, den Reichthum der Vergangenheit, die Armuth der Gegenwart und den zuruͤckgebliebenen Stolz. Gern moͤchten die Toͤchter Trients ſich noch ſchmuͤcken wie zu den Zeiten des Konziliums, wo die Stadt bluͤhte in Sammt und Seide; aber das Konzilium hat wenig ausgerichtet, der Sammt iſt abgeſchabt, die Seide zerfetzt, und den armen Kindern blieb nichts als kuͤmmerlicher Flitterſtaat, den ſie in der Woche aͤngſtlich ſchonen, und womit ſie ſich nur noch des Sonntags putzen. Manche aber entbehren auch dieſer Reſte eines verſchollenen Luxus, und muͤſſen ſich mit allerlei ordinairen und wohlfeilen Fabrikaten unſers Zeitalters be¬ helfen. Da giebt es nun gar ruͤhrende Contraſte zwiſchen Leib und Kleid; der feingeſchnittene

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/112>, abgerufen am 28.04.2024.