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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827.

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Folianten der Weltgeschichte saß sie emsig webend,
und sie blickte so philosophisch sicher auf ihre
Umgebung, und hatte ganz den göttingischen
Gelahrtheits-Dünkel, und schien stolz zu seyn
auf ihre mathematischen Kenntnisse, auf ihre
Kunstleistungen, auf ihr einsames Nachdenken --
und doch wußte sie nichts von all den Wundern,
die in dem Buche stehen, worauf sie geboren
worden, worauf sie ihr ganzes Leben verbracht
hatte, und worauf sie auch sterben wird, wenn
der schleichende Dr. L....... sie nicht verjagt.
Und wer ist der schleichende Dr. L.......?
Seine Seele wohnte vielleicht einst in eben einer
solchen Spinne, und jetzt hütet er die Folianten,
worauf er einst saß -- und wenn er sie auch
lies't, er erfährt doch nicht ihren wahren Inhalt.

Was mag auf dem Boden einst geschehen
seyn, wo ich jetzt wandle? Ein Conrector,
der hier badete, wollte behaupten, hier sey einst
der Dienst der Hertha oder besser gesagt Forsete,
begangen worden, wovon Tacitus so geheimni߬

Folianten der Weltgeſchichte ſaß ſie emſig webend,
und ſie blickte ſo philoſophiſch ſicher auf ihre
Umgebung, und hatte ganz den goͤttingiſchen
Gelahrtheits-Duͤnkel, und ſchien ſtolz zu ſeyn
auf ihre mathematiſchen Kenntniſſe, auf ihre
Kunſtleiſtungen, auf ihr einſames Nachdenken —
und doch wußte ſie nichts von all den Wundern,
die in dem Buche ſtehen, worauf ſie geboren
worden, worauf ſie ihr ganzes Leben verbracht
hatte, und worauf ſie auch ſterben wird, wenn
der ſchleichende Dr. L....... ſie nicht verjagt.
Und wer iſt der ſchleichende Dr. L.......?
Seine Seele wohnte vielleicht einſt in eben einer
ſolchen Spinne, und jetzt huͤtet er die Folianten,
worauf er einſt ſaß — und wenn er ſie auch
lieſ't, er erfaͤhrt doch nicht ihren wahren Inhalt.

Was mag auf dem Boden einſt geſchehen
ſeyn, wo ich jetzt wandle? Ein Conrector,
der hier badete, wollte behaupten, hier ſey einſt
der Dienſt der Hertha oder beſſer geſagt Forſete,
begangen worden, wovon Tacitus ſo geheimni߬

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[79/0087] Folianten der Weltgeſchichte ſaß ſie emſig webend, und ſie blickte ſo philoſophiſch ſicher auf ihre Umgebung, und hatte ganz den goͤttingiſchen Gelahrtheits-Duͤnkel, und ſchien ſtolz zu ſeyn auf ihre mathematiſchen Kenntniſſe, auf ihre Kunſtleiſtungen, auf ihr einſames Nachdenken — und doch wußte ſie nichts von all den Wundern, die in dem Buche ſtehen, worauf ſie geboren worden, worauf ſie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und worauf ſie auch ſterben wird, wenn der ſchleichende Dr. L....... ſie nicht verjagt. Und wer iſt der ſchleichende Dr. L.......? Seine Seele wohnte vielleicht einſt in eben einer ſolchen Spinne, und jetzt huͤtet er die Folianten, worauf er einſt ſaß — und wenn er ſie auch lieſ't, er erfaͤhrt doch nicht ihren wahren Inhalt. Was mag auf dem Boden einſt geſchehen ſeyn, wo ich jetzt wandle? Ein Conrector, der hier badete, wollte behaupten, hier ſey einſt der Dienſt der Hertha oder beſſer geſagt Forſete, begangen worden, wovon Tacitus ſo geheimni߬

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/87>, abgerufen am 30.04.2024.