träumte mir: die Welt habe ein Ende -- die schönen Blumengärten und grünen Wiesen wur¬ den wie Teppiche vom Boden aufgenommen und zusammengerollt, der Gassenvogt stieg auf eine hohe Leiter und nahm die Sonne vom Himmel herab, der Schneider Kilian stand da¬ bey und sprach zu sich selber: "ich muß nach Hause gehn und mich hübsch anziehn, denn ich bin todt, und soll noch heute begraben wer¬ den" -- und es wurde immer dunkler, spär¬ lich schimmerten oben einige Sterne und auch diese fielen herab wie gelbe Blätter im Herbste, allmählig verschwanden die Menschen, ich ar¬ mes Kind irrte ängstlich umher, stand endlich vor der Weidenhecke eines wüsten Bauerhofes und sah dort einen Mann, der mit dem Spa¬ ten die Erde aufwühlte, und neben ihm ein häßlich hämisches Weib, das etwas wie einen abgeschnittenen Menschenkopf in der Schürze hielt, und das war der Mond, und sie legte ihn ängstlich sorgsam in die offne Grube --
traͤumte mir: die Welt habe ein Ende — die ſchoͤnen Blumengaͤrten und gruͤnen Wieſen wur¬ den wie Teppiche vom Boden aufgenommen und zuſammengerollt, der Gaſſenvogt ſtieg auf eine hohe Leiter und nahm die Sonne vom Himmel herab, der Schneider Kilian ſtand da¬ bey und ſprach zu ſich ſelber: „ich muß nach Hauſe gehn und mich huͤbſch anziehn, denn ich bin todt, und ſoll noch heute begraben wer¬ den“ — und es wurde immer dunkler, ſpaͤr¬ lich ſchimmerten oben einige Sterne und auch dieſe fielen herab wie gelbe Blaͤtter im Herbſte, allmaͤhlig verſchwanden die Menſchen, ich ar¬ mes Kind irrte aͤngſtlich umher, ſtand endlich vor der Weidenhecke eines wuͤſten Bauerhofes und ſah dort einen Mann, der mit dem Spa¬ ten die Erde aufwuͤhlte, und neben ihm ein haͤßlich haͤmiſches Weib, das etwas wie einen abgeſchnittenen Menſchenkopf in der Schuͤrze hielt, und das war der Mond, und ſie legte ihn aͤngſtlich ſorgſam in die offne Grube —
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traͤumte mir: die Welt habe ein Ende — die
ſchoͤnen Blumengaͤrten und gruͤnen Wieſen wur¬
den wie Teppiche vom Boden aufgenommen
und zuſammengerollt, der Gaſſenvogt ſtieg auf
eine hohe Leiter und nahm die Sonne vom
Himmel herab, der Schneider Kilian ſtand da¬
bey und ſprach zu ſich ſelber: „ich muß nach
Hauſe gehn und mich huͤbſch anziehn, denn ich
bin todt, und ſoll noch heute begraben wer¬
den“ — und es wurde immer dunkler, ſpaͤr¬
lich ſchimmerten oben einige Sterne und auch
dieſe fielen herab wie gelbe Blaͤtter im Herbſte,
allmaͤhlig verſchwanden die Menſchen, ich ar¬
mes Kind irrte aͤngſtlich umher, ſtand endlich
vor der Weidenhecke eines wuͤſten Bauerhofes
und ſah dort einen Mann, der mit dem Spa¬
ten die Erde aufwuͤhlte, und neben ihm ein
haͤßlich haͤmiſches Weib, das etwas wie einen
abgeſchnittenen Menſchenkopf in der Schuͤrze
hielt, und das war der Mond, und ſie legte
ihn aͤngſtlich ſorgſam in die offne Grube —
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/183>, abgerufen am 22.11.2024.
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