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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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ein uralter Traum wird lebendig, die Geliebte
erscheint -- ach, daß sie so schnell wieder ver¬
schwindet!

Je höher man den Berg hinauf steigt, desto
kürzer, zwerghafter werden die Tannen, sie scheinen
immer mehr und mehr zusammen zu schrumpfen,
bis nur Heidelbeer- und Rothbeer-Sträuche und
Bergkräuter übrig bleiben. Da wird es auch schon
fühlbar kälter. Die wunderlichen Gruppen der
Granitblöcke werden hier erst recht sichtbar; diese
sind oft von erstaunlicher Größe. Das mögen wohl
die Spielbälle seyn, die sich die bösen Geister ein¬
ander zuwerfen in der Walpurgis-Nacht, wenn hier
die Hexen auf Besenstielen und Mistgabeln einher¬
geritten kommen, und die abentheuerlich verruchte
Lust beginnt, wie die glaubhafte Amme es erzählt,
und wie es zu schauen ist auf den hübschen Faust¬
bildern des Meister Retzsch. Ja, ein junger Dich¬
ter, der auf einer Reise von Berlin nach Göttin¬
gen in der ersten Mainacht am Brocken vorbey ritt,
bemerkte sogar, wie einige belletristische Damen auf

ein uralter Traum wird lebendig, die Geliebte
erſcheint — ach, daß ſie ſo ſchnell wieder ver¬
ſchwindet!

Je hoͤher man den Berg hinauf ſteigt, deſto
kuͤrzer, zwerghafter werden die Tannen, ſie ſcheinen
immer mehr und mehr zuſammen zu ſchrumpfen,
bis nur Heidelbeer- und Rothbeer-Straͤuche und
Bergkraͤuter uͤbrig bleiben. Da wird es auch ſchon
fuͤhlbar kaͤlter. Die wunderlichen Gruppen der
Granitbloͤcke werden hier erſt recht ſichtbar; dieſe
ſind oft von erſtaunlicher Groͤße. Das moͤgen wohl
die Spielbaͤlle ſeyn, die ſich die boͤſen Geiſter ein¬
ander zuwerfen in der Walpurgis-Nacht, wenn hier
die Hexen auf Beſenſtielen und Miſtgabeln einher¬
geritten kommen, und die abentheuerlich verruchte
Luſt beginnt, wie die glaubhafte Amme es erzaͤhlt,
und wie es zu ſchauen iſt auf den huͤbſchen Fauſt¬
bildern des Meiſter Retzſch. Ja, ein junger Dich¬
ter, der auf einer Reiſe von Berlin nach Goͤttin¬
gen in der erſten Mainacht am Brocken vorbey ritt,
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[199/0211] ein uralter Traum wird lebendig, die Geliebte erſcheint — ach, daß ſie ſo ſchnell wieder ver¬ ſchwindet! Je hoͤher man den Berg hinauf ſteigt, deſto kuͤrzer, zwerghafter werden die Tannen, ſie ſcheinen immer mehr und mehr zuſammen zu ſchrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rothbeer-Straͤuche und Bergkraͤuter uͤbrig bleiben. Da wird es auch ſchon fuͤhlbar kaͤlter. Die wunderlichen Gruppen der Granitbloͤcke werden hier erſt recht ſichtbar; dieſe ſind oft von erſtaunlicher Groͤße. Das moͤgen wohl die Spielbaͤlle ſeyn, die ſich die boͤſen Geiſter ein¬ ander zuwerfen in der Walpurgis-Nacht, wenn hier die Hexen auf Beſenſtielen und Miſtgabeln einher¬ geritten kommen, und die abentheuerlich verruchte Luſt beginnt, wie die glaubhafte Amme es erzaͤhlt, und wie es zu ſchauen iſt auf den huͤbſchen Fauſt¬ bildern des Meiſter Retzſch. Ja, ein junger Dich¬ ter, der auf einer Reiſe von Berlin nach Goͤttin¬ gen in der erſten Mainacht am Brocken vorbey ritt, bemerkte ſogar, wie einige belletriſtiſche Damen auf

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/211>, abgerufen am 17.05.2024.