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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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mundfaulen Dialekte sprach er freundlich: "Fürch¬
ten Sie sich nicht, und glauben Sie nicht, daß
ich ein Gespenst sey. Es ist Täuschung Ihrer
Phantasie, wenn Sie mich als Gespenst zu sehen
glauben. Was ist ein Gespenst? Geben Sie mir
eine Definition? Deduziren Sie mir die Bedin¬
gungen der Möglichkeit eines Gespenstes? In
welchem vernünftigen Zusammenhange stände eine
solche Erscheinung mit der Vernunft? Die Ver¬
nunft, ich sage die Vernunft --" Und nun schritt
das Gespenst zu einer Analyse der Vernunft, citirte
Kant's "Kritik der reinen Vernunft" 2ten Theil, 1ster
[A]bschnitt, 2tes Buch, 3tes Hauptstück, die Unter¬
sch[e]idung von Phänomena und Noumena, constru¬
irte [a]lsdann den problematischen Gespensterglauben,
setzte einen Syllogismus auf den andern, und schloß
mit dem l[o]gischen Beweise: daß es durchaus keine
Geister gie[b]t. Mir unterdessen lief der kalte
Schweiß über den Rücken, meine Zähne klapperten
wie Kastanietten, aus Seelenangst nickte ich unbe¬
dingte Zustimmung bei jedem Satz, womit der

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mundfaulen Dialekte ſprach er freundlich: „Fuͤrch¬
ten Sie ſich nicht, und glauben Sie nicht, daß
ich ein Geſpenſt ſey. Es iſt Taͤuſchung Ihrer
Phantaſie, wenn Sie mich als Geſpenſt zu ſehen
glauben. Was iſt ein Geſpenſt? Geben Sie mir
eine Definition? Deduziren Sie mir die Bedin¬
gungen der Moͤglichkeit eines Geſpenſtes? In
welchem vernuͤnftigen Zuſammenhange ſtaͤnde eine
ſolche Erſcheinung mit der Vernunft? Die Ver¬
nunft, ich ſage die Vernunft —“ Und nun ſchritt
das Geſpenſt zu einer Analyſe der Vernunft, citirte
Kant's „Kritik der reinen Vernunft“ 2ten Theil, 1ſter
[A]bſchnitt, 2tes Buch, 3tes Hauptſtuͤck, die Unter¬
ſch[e]idung von Phaͤnomena und Noumena, conſtru¬
irte [a]lsdann den problematiſchen Geſpenſterglauben,
ſetzte einen Syllogismus auf den andern, und ſchloß
mit dem l[o]giſchen Beweiſe: daß es durchaus keine
Geiſter gie[b]t. Mir unterdeſſen lief der kalte
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[177/0189] mundfaulen Dialekte ſprach er freundlich: „Fuͤrch¬ ten Sie ſich nicht, und glauben Sie nicht, daß ich ein Geſpenſt ſey. Es iſt Taͤuſchung Ihrer Phantaſie, wenn Sie mich als Geſpenſt zu ſehen glauben. Was iſt ein Geſpenſt? Geben Sie mir eine Definition? Deduziren Sie mir die Bedin¬ gungen der Moͤglichkeit eines Geſpenſtes? In welchem vernuͤnftigen Zuſammenhange ſtaͤnde eine ſolche Erſcheinung mit der Vernunft? Die Ver¬ nunft, ich ſage die Vernunft —“ Und nun ſchritt das Geſpenſt zu einer Analyſe der Vernunft, citirte Kant's „Kritik der reinen Vernunft“ 2ten Theil, 1ſter Abſchnitt, 2tes Buch, 3tes Hauptſtuͤck, die Unter¬ ſcheidung von Phaͤnomena und Noumena, conſtru¬ irte alsdann den problematiſchen Geſpenſterglauben, ſetzte einen Syllogismus auf den andern, und ſchloß mit dem logiſchen Beweiſe: daß es durchaus keine Geiſter giebt. Mir unterdeſſen lief der kalte Schweiß uͤber den Ruͤcken, meine Zaͤhne klapperten wie Kaſtanietten, aus Seelenangſt nickte ich unbe¬ dingte Zuſtimmung bei jedem Satz, womit der 12

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/189>, abgerufen am 04.12.2024.