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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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spukende Doctor die Absurdität aller Gespensterfurcht
bewies, und derselbe demonstrirte so eifrig, daß
er einmal in der Zerstreuung, statt seiner golde¬
nen Uhr, eine Hand voll Würmer aus der Uhr¬
tasche zog, und seinen Irrthum bemerkend, mit
possirlich ängstlicher Hastigkeit wieder einsteckte.
"Die Vernunft ist das höchste -- " da schlug die
Glocke Eins und das Gespenst verschwand.

Von Goslar ging ich den andern Morgen wei¬
ter, halb auf Gerathewohl, halb in der Absicht,
den Bruder des Clausthaler Bergmanns aufzu¬
suchen. Wieder schönes, liebes Sonntagswetter.
Ich bestieg Hügel und Berge, betrachtete wie [d]ie
Sonne den Nebel zu verscheuchen suchte, wan[d]erte
freudig durch die schauernden Wälder, [und] um
mein träumendes Haupt klingelten die Glocken¬
blümchen von Goslar. In ihren we[i]ßen Nacht¬
mänteln standen die Berge, die Tan[n]en rüttelten
sich den Schlaf aus den Gliedern, d[e]r frische Mor¬
genwind frisirte ihnen die herabhängenden, grünen
Haare, die Vöglein hielten Betstunde, das Wie¬

ſpukende Doctor die Abſurditaͤt aller Geſpenſterfurcht
bewies, und derſelbe demonſtrirte ſo eifrig, daß
er einmal in der Zerſtreuung, ſtatt ſeiner golde¬
nen Uhr, eine Hand voll Wuͤrmer aus der Uhr¬
taſche zog, und ſeinen Irrthum bemerkend, mit
poſſirlich aͤngſtlicher Haſtigkeit wieder einſteckte.
„Die Vernunft iſt das hoͤchſte — “ da ſchlug die
Glocke Eins und das Geſpenſt verſchwand.

Von Goslar ging ich den andern Morgen wei¬
ter, halb auf Gerathewohl, halb in der Abſicht,
den Bruder des Clausthaler Bergmanns aufzu¬
ſuchen. Wieder ſchoͤnes, liebes Sonntagswetter.
Ich beſtieg Huͤgel und Berge, betrachtete wie [d]ie
Sonne den Nebel zu verſcheuchen ſuchte, wan[d]erte
freudig durch die ſchauernden Waͤlder, [und] um
mein traͤumendes Haupt klingelten die Glocken¬
bluͤmchen von Goslar. In ihren we[i]ßen Nacht¬
maͤnteln ſtanden die Berge, die Tan[n]en ruͤttelten
ſich den Schlaf aus den Gliedern, d[e]r friſche Mor¬
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[178/0190] ſpukende Doctor die Abſurditaͤt aller Geſpenſterfurcht bewies, und derſelbe demonſtrirte ſo eifrig, daß er einmal in der Zerſtreuung, ſtatt ſeiner golde¬ nen Uhr, eine Hand voll Wuͤrmer aus der Uhr¬ taſche zog, und ſeinen Irrthum bemerkend, mit poſſirlich aͤngſtlicher Haſtigkeit wieder einſteckte. „Die Vernunft iſt das hoͤchſte — “ da ſchlug die Glocke Eins und das Geſpenſt verſchwand. Von Goslar ging ich den andern Morgen wei¬ ter, halb auf Gerathewohl, halb in der Abſicht, den Bruder des Clausthaler Bergmanns aufzu¬ ſuchen. Wieder ſchoͤnes, liebes Sonntagswetter. Ich beſtieg Huͤgel und Berge, betrachtete wie die Sonne den Nebel zu verſcheuchen ſuchte, wanderte freudig durch die ſchauernden Waͤlder, und um mein traͤumendes Haupt klingelten die Glocken¬ bluͤmchen von Goslar. In ihren weißen Nacht¬ maͤnteln ſtanden die Berge, die Tannen ruͤttelten ſich den Schlaf aus den Gliedern, der friſche Mor¬ genwind friſirte ihnen die herabhaͤngenden, gruͤnen Haare, die Voͤglein hielten Betſtunde, das Wie¬

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/190>, abgerufen am 18.05.2024.