Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

Glockenschlage schlug noch eine andere Uhr, sehr
rasch, fast keifend gell, und vielleicht ärgerlich über
die Langsamkeit ihrer Frau Gevatterin. Als beide
eiserne Zungen schwiegen, und tiefe Todesstille im
ganzen Hause herrschte, war es mir plötzlich, als
hörte ich auf dem Corridor, vor meinem Zimmer,
etwas schlottern und schlappen, wie der unsichere
Gang eines alten Mannes. Endlich öffnete sich
meine Thüre, und langsam trat herein der verstor¬
bene Doctor Saul Ascher. Ein kaltes Fieber rie¬
selte mir durch Mark und Bein, ich zitterte wie
Espenlaub, und kaum wagte ich das Gespenst an¬
zusehen. Er sah aus wie sonst, derselbe trans¬
cendentalgraue Leibrock, dieselben abstrakten Beine,
und dasselbe mathematische Gesicht; nur war dieses
jetzt etwas gelblicher als sonst, auch der Mund,
der sonst zwei Winkel von 221/2 Grad bildete, war
zusammengekniffen, und die Augenkreise hatten
einen größeren Radius. Schwankend, und wie
sonst sich auf sein spanisches Röhrchen stützend,
näherte er sich mir, und in seinem gewöhnlichen

Glockenſchlage ſchlug noch eine andere Uhr, ſehr
raſch, faſt keifend gell, und vielleicht aͤrgerlich uͤber
die Langſamkeit ihrer Frau Gevatterin. Als beide
eiſerne Zungen ſchwiegen, und tiefe Todesſtille im
ganzen Hauſe herrſchte, war es mir ploͤtzlich, als
hoͤrte ich auf dem Corridor, vor meinem Zimmer,
etwas ſchlottern und ſchlappen, wie der unſichere
Gang eines alten Mannes. Endlich oͤffnete ſich
meine Thuͤre, und langſam trat herein der verſtor¬
bene Doctor Saul Aſcher. Ein kaltes Fieber rie¬
ſelte mir durch Mark und Bein, ich zitterte wie
Eſpenlaub, und kaum wagte ich das Geſpenſt an¬
zuſehen. Er ſah aus wie ſonſt, derſelbe trans¬
cendentalgraue Leibrock, dieſelben abſtrakten Beine,
und daſſelbe mathematiſche Geſicht; nur war dieſes
jetzt etwas gelblicher als ſonſt, auch der Mund,
der ſonſt zwei Winkel von 22½ Grad bildete, war
zuſammengekniffen, und die Augenkreiſe hatten
einen groͤßeren Radius. Schwankend, und wie
ſonſt ſich auf ſein ſpaniſches Roͤhrchen ſtuͤtzend,
naͤherte er ſich mir, und in ſeinem gewoͤhnlichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="poem" n="1">
        <p><pb facs="#f0188" n="176"/>
Glocken&#x017F;chlage &#x017F;chlug noch eine andere Uhr, &#x017F;ehr<lb/>
ra&#x017F;ch, fa&#x017F;t keifend gell, und vielleicht a&#x0364;rgerlich u&#x0364;ber<lb/>
die Lang&#x017F;amkeit ihrer Frau Gevatterin. Als beide<lb/>
ei&#x017F;erne Zungen &#x017F;chwiegen, und tiefe Todes&#x017F;tille im<lb/>
ganzen Hau&#x017F;e herr&#x017F;chte, war es mir plo&#x0364;tzlich, als<lb/>
ho&#x0364;rte ich auf dem Corridor, vor meinem Zimmer,<lb/>
etwas &#x017F;chlottern und &#x017F;chlappen, wie der un&#x017F;ichere<lb/>
Gang eines alten Mannes. Endlich o&#x0364;ffnete &#x017F;ich<lb/>
meine Thu&#x0364;re, und lang&#x017F;am trat herein der ver&#x017F;tor¬<lb/>
bene Doctor Saul A&#x017F;cher. Ein kaltes Fieber rie¬<lb/>
&#x017F;elte mir durch Mark und Bein, ich zitterte wie<lb/>
E&#x017F;penlaub, und kaum wagte ich das Ge&#x017F;pen&#x017F;t an¬<lb/>
zu&#x017F;ehen. Er &#x017F;ah aus wie &#x017F;on&#x017F;t, der&#x017F;elbe trans¬<lb/>
cendentalgraue Leibrock, die&#x017F;elben ab&#x017F;trakten Beine,<lb/>
und da&#x017F;&#x017F;elbe mathemati&#x017F;che Ge&#x017F;icht; nur war die&#x017F;es<lb/>
jetzt etwas gelblicher als &#x017F;on&#x017F;t, auch der Mund,<lb/>
der &#x017F;on&#x017F;t zwei Winkel von 22½ Grad bildete, war<lb/>
zu&#x017F;ammengekniffen, und die Augenkrei&#x017F;e hatten<lb/>
einen gro&#x0364;ßeren Radius. Schwankend, und wie<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t &#x017F;ich auf &#x017F;ein &#x017F;pani&#x017F;ches Ro&#x0364;hrchen &#x017F;tu&#x0364;tzend,<lb/>
na&#x0364;herte er &#x017F;ich mir, und in &#x017F;einem gewo&#x0364;hnlichen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0188] Glockenſchlage ſchlug noch eine andere Uhr, ſehr raſch, faſt keifend gell, und vielleicht aͤrgerlich uͤber die Langſamkeit ihrer Frau Gevatterin. Als beide eiſerne Zungen ſchwiegen, und tiefe Todesſtille im ganzen Hauſe herrſchte, war es mir ploͤtzlich, als hoͤrte ich auf dem Corridor, vor meinem Zimmer, etwas ſchlottern und ſchlappen, wie der unſichere Gang eines alten Mannes. Endlich oͤffnete ſich meine Thuͤre, und langſam trat herein der verſtor¬ bene Doctor Saul Aſcher. Ein kaltes Fieber rie¬ ſelte mir durch Mark und Bein, ich zitterte wie Eſpenlaub, und kaum wagte ich das Geſpenſt an¬ zuſehen. Er ſah aus wie ſonſt, derſelbe trans¬ cendentalgraue Leibrock, dieſelben abſtrakten Beine, und daſſelbe mathematiſche Geſicht; nur war dieſes jetzt etwas gelblicher als ſonſt, auch der Mund, der ſonſt zwei Winkel von 22½ Grad bildete, war zuſammengekniffen, und die Augenkreiſe hatten einen groͤßeren Radius. Schwankend, und wie ſonſt ſich auf ſein ſpaniſches Roͤhrchen ſtuͤtzend, naͤherte er ſich mir, und in ſeinem gewoͤhnlichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/188
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/188>, abgerufen am 17.05.2024.