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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Erstes Buch. §. 18.
gierung des Volks mit Ungleichheit, bald Timokratie, bald Fami-
lienherrschaft, bald Geldherrschaft.

Eine Ausartung des Gemeinwesens ist die Ochlokratie oder die
wandelbare Herrschaft des augenblicklichen Willens der Masse.

Die historische Stufenfolge der Staatsverfassungen ist:

I. Der morgenländische Staat, ein Staat der Kindheit und
Knechtschaft, eine Despotie oder Oligokratie mit Priesterthum
in Verbindung. Seine durch Christenthum und geistige Cul-
tur veredelte Form ist der slavische Staat, mit oder ohne feu-
dalistische Einrichtungen und Stände.
II. Der Europäische Staat, nämlich
a) der klassische Staat der alten Welt, Anfangs ein heroisches
Königthum unter Mitregierung der Geronten, dann Volks-
herrschaft, selten ein reines Königthum, bis der römische
Imperatorenstaat, ein Regieren bloß nach politischer Con-
venienz, Alles in sich verschlang;
b) der germanische Staat des frühesten Mittelalters, oder der
grundherrliche und Gemeindestaat;
c) der romanisch-germanische, nach dem Typus der römischen
Imperatorenherrschaft, beschränkt durch Lehnswesen und
Gemeindekraft;
d) der absolute Staat, das jetzt s. g. ancien regime;
e) der moderne constitutionelle Staat, oder die Basirung der
Staatsgewalt auf die wirkliche Uebereinstimmung des ge-
meinen Willens, wenigstens der Majorität; gegründet bald
auf die Idee der Volkssouveränetät (Volksstaat), bald auf
fürstliche Machtvollkommenheit mit garantirten Rechten der
Unterthanen (der dynastisch-constitutionelle Staat).

Den fruchtbarsten Boden hat das constitutionelle Princip im
Westen, Süd- und Nordwest Europa's gefunden. Abgeschlossen wird
es gegen den slavischen und orientalischen Staat durch einen Gür-
tel der mannigfaltigsten Staatennüancirungen, der von Italien durch
das östliche und nördliche Deutschland bis nach Dänemark sich her-
überzieht. Nebenher stehen unter den monarchischen Staaten ver-
einzelte republikanische Gemeinwesen, theils von demokratischer theils
aristokratischer Färbung.

Nähere Betrachtungen hierüber gehören dem Staatsrecht an.


Erſtes Buch. §. 18.
gierung des Volks mit Ungleichheit, bald Timokratie, bald Fami-
lienherrſchaft, bald Geldherrſchaft.

Eine Ausartung des Gemeinweſens iſt die Ochlokratie oder die
wandelbare Herrſchaft des augenblicklichen Willens der Maſſe.

Die hiſtoriſche Stufenfolge der Staatsverfaſſungen iſt:

I. Der morgenländiſche Staat, ein Staat der Kindheit und
Knechtſchaft, eine Despotie oder Oligokratie mit Prieſterthum
in Verbindung. Seine durch Chriſtenthum und geiſtige Cul-
tur veredelte Form iſt der ſlaviſche Staat, mit oder ohne feu-
daliſtiſche Einrichtungen und Stände.
II. Der Europäiſche Staat, nämlich
a) der klaſſiſche Staat der alten Welt, Anfangs ein heroiſches
Königthum unter Mitregierung der Geronten, dann Volks-
herrſchaft, ſelten ein reines Königthum, bis der römiſche
Imperatorenſtaat, ein Regieren bloß nach politiſcher Con-
venienz, Alles in ſich verſchlang;
b) der germaniſche Staat des früheſten Mittelalters, oder der
grundherrliche und Gemeindeſtaat;
c) der romaniſch-germaniſche, nach dem Typus der römiſchen
Imperatorenherrſchaft, beſchränkt durch Lehnsweſen und
Gemeindekraft;
d) der abſolute Staat, das jetzt ſ. g. ancien regime;
e) der moderne conſtitutionelle Staat, oder die Baſirung der
Staatsgewalt auf die wirkliche Uebereinſtimmung des ge-
meinen Willens, wenigſtens der Majorität; gegründet bald
auf die Idee der Volksſouveränetät (Volksſtaat), bald auf
fürſtliche Machtvollkommenheit mit garantirten Rechten der
Unterthanen (der dynaſtiſch-conſtitutionelle Staat).

Den fruchtbarſten Boden hat das conſtitutionelle Princip im
Weſten, Süd- und Nordweſt Europa’s gefunden. Abgeſchloſſen wird
es gegen den ſlaviſchen und orientaliſchen Staat durch einen Gür-
tel der mannigfaltigſten Staatennüancirungen, der von Italien durch
das öſtliche und nördliche Deutſchland bis nach Dänemark ſich her-
überzieht. Nebenher ſtehen unter den monarchiſchen Staaten ver-
einzelte republikaniſche Gemeinweſen, theils von demokratiſcher theils
ariſtokratiſcher Färbung.

Nähere Betrachtungen hierüber gehören dem Staatsrecht an.


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[32/0056] Erſtes Buch. §. 18. gierung des Volks mit Ungleichheit, bald Timokratie, bald Fami- lienherrſchaft, bald Geldherrſchaft. Eine Ausartung des Gemeinweſens iſt die Ochlokratie oder die wandelbare Herrſchaft des augenblicklichen Willens der Maſſe. Die hiſtoriſche Stufenfolge der Staatsverfaſſungen iſt: I. Der morgenländiſche Staat, ein Staat der Kindheit und Knechtſchaft, eine Despotie oder Oligokratie mit Prieſterthum in Verbindung. Seine durch Chriſtenthum und geiſtige Cul- tur veredelte Form iſt der ſlaviſche Staat, mit oder ohne feu- daliſtiſche Einrichtungen und Stände. II. Der Europäiſche Staat, nämlich a) der klaſſiſche Staat der alten Welt, Anfangs ein heroiſches Königthum unter Mitregierung der Geronten, dann Volks- herrſchaft, ſelten ein reines Königthum, bis der römiſche Imperatorenſtaat, ein Regieren bloß nach politiſcher Con- venienz, Alles in ſich verſchlang; b) der germaniſche Staat des früheſten Mittelalters, oder der grundherrliche und Gemeindeſtaat; c) der romaniſch-germaniſche, nach dem Typus der römiſchen Imperatorenherrſchaft, beſchränkt durch Lehnsweſen und Gemeindekraft; d) der abſolute Staat, das jetzt ſ. g. ancien regime; e) der moderne conſtitutionelle Staat, oder die Baſirung der Staatsgewalt auf die wirkliche Uebereinſtimmung des ge- meinen Willens, wenigſtens der Majorität; gegründet bald auf die Idee der Volksſouveränetät (Volksſtaat), bald auf fürſtliche Machtvollkommenheit mit garantirten Rechten der Unterthanen (der dynaſtiſch-conſtitutionelle Staat). Den fruchtbarſten Boden hat das conſtitutionelle Princip im Weſten, Süd- und Nordweſt Europa’s gefunden. Abgeſchloſſen wird es gegen den ſlaviſchen und orientaliſchen Staat durch einen Gür- tel der mannigfaltigſten Staatennüancirungen, der von Italien durch das öſtliche und nördliche Deutſchland bis nach Dänemark ſich her- überzieht. Nebenher ſtehen unter den monarchiſchen Staaten ver- einzelte republikaniſche Gemeinweſen, theils von demokratiſcher theils ariſtokratiſcher Färbung. Nähere Betrachtungen hierüber gehören dem Staatsrecht an.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/56>, abgerufen am 03.05.2024.