Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heeren, Arnold H. L.: Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Göttingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite
III. Periode.

6. Wenn aber diese politischen Stützen
schwankten; so waren die moralischen fast gänz-
lich umgestürzt. Die Grundlage jedes Staaten-
systems, die Heiligkeit des rechtmäßigen Besitzes,
ohne welche es nur einen Krieg Aller gegen Alle
giebt, war dahin; die Politik hatte bereits in Po-
len ihren Schleyer abgelegt; die Arrondirungssucht
hatte gesiegt. Fiel nicht gleich Alles zusammen,
so waren es nicht mehr anerkannte Grundsätze des
Völkerrechts, sondern wandelbare Verhältnisse, die
schützten. Das unauflösliche Band zwischen Sit-
ten und Politik hatte zur Folge, daß der Ego-
ismus das herrschende Princip auch des öffentlichen
wie des Privatlebens ward. Der unglückliche
Wahn, von den Statistikern genährt, der die
Staatsmacht nur nach den materiellen Kräften
mißt, und den Wachsthum derselben nur nach
Quadratmeilen und Geldeinnahme schätzt, hatte un-
ausrottbare Wurzeln gefaßt.

7. Und doch, wer sieht nicht, daß ein Staa-
tensystem, in dem bloßer Egoismus das Princip
wird, sich seiner Auflösung nähert? Vor allem
ein System so ungleicher Staaten, wie das Euro-
päische, das bisher so oft nur durch Verbindun-
gen
gegen den Uebermächtigen sich aufrecht erhielt?
Die Erfahrung zeigte bald, daß Verbindungen mit

Auf-
III. Periode.

6. Wenn aber dieſe politiſchen Stuͤtzen
ſchwankten; ſo waren die moraliſchen faſt gaͤnz-
lich umgeſtuͤrzt. Die Grundlage jedes Staaten-
ſyſtems, die Heiligkeit des rechtmaͤßigen Beſitzes,
ohne welche es nur einen Krieg Aller gegen Alle
giebt, war dahin; die Politik hatte bereits in Po-
len ihren Schleyer abgelegt; die Arrondirungsſucht
hatte geſiegt. Fiel nicht gleich Alles zuſammen,
ſo waren es nicht mehr anerkannte Grundſaͤtze des
Voͤlkerrechts, ſondern wandelbare Verhaͤltniſſe, die
ſchuͤtzten. Das unaufloͤsliche Band zwiſchen Sit-
ten und Politik hatte zur Folge, daß der Ego-
ismus das herrſchende Princip auch des oͤffentlichen
wie des Privatlebens ward. Der ungluͤckliche
Wahn, von den Statiſtikern genaͤhrt, der die
Staatsmacht nur nach den materiellen Kraͤften
mißt, und den Wachsthum derſelben nur nach
Quadratmeilen und Geldeinnahme ſchaͤtzt, hatte un-
ausrottbare Wurzeln gefaßt.

7. Und doch, wer ſieht nicht, daß ein Staa-
tenſyſtem, in dem bloßer Egoismus das Princip
wird, ſich ſeiner Aufloͤſung naͤhert? Vor allem
ein Syſtem ſo ungleicher Staaten, wie das Euro-
paͤiſche, das bisher ſo oft nur durch Verbindun-
gen
gegen den Uebermaͤchtigen ſich aufrecht erhielt?
Die Erfahrung zeigte bald, daß Verbindungen mit

Auf-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0570" n="532"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">III.</hi> Periode.</hi> </fw><lb/>
          <p>6. Wenn aber die&#x017F;e politi&#x017F;chen Stu&#x0364;tzen<lb/>
&#x017F;chwankten; &#x017F;o waren die <hi rendition="#g">morali&#x017F;chen</hi> fa&#x017F;t ga&#x0364;nz-<lb/>
lich umge&#x017F;tu&#x0364;rzt. Die Grundlage jedes Staaten-<lb/>
&#x017F;y&#x017F;tems, die Heiligkeit des rechtma&#x0364;ßigen Be&#x017F;itzes,<lb/>
ohne welche es nur einen Krieg Aller gegen Alle<lb/>
giebt, war dahin; die Politik hatte bereits in Po-<lb/>
len ihren Schleyer abgelegt; die Arrondirungs&#x017F;ucht<lb/>
hatte ge&#x017F;iegt. Fiel nicht gleich Alles zu&#x017F;ammen,<lb/>
&#x017F;o waren es nicht mehr anerkannte Grund&#x017F;a&#x0364;tze des<lb/>
Vo&#x0364;lkerrechts, &#x017F;ondern wandelbare Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, die<lb/>
&#x017F;chu&#x0364;tzten. Das unauflo&#x0364;sliche Band zwi&#x017F;chen Sit-<lb/>
ten und Politik hatte zur Folge, daß der Ego-<lb/>
ismus das herr&#x017F;chende Princip auch des o&#x0364;ffentlichen<lb/>
wie des Privatlebens ward. Der unglu&#x0364;ckliche<lb/>
Wahn, von den Stati&#x017F;tikern gena&#x0364;hrt, der die<lb/>
Staatsmacht nur nach den materiellen Kra&#x0364;ften<lb/>
mißt, und den Wachsthum der&#x017F;elben nur nach<lb/>
Quadratmeilen und Geldeinnahme &#x017F;cha&#x0364;tzt, hatte un-<lb/>
ausrottbare Wurzeln gefaßt.</p><lb/>
          <p>7. Und doch, wer &#x017F;ieht nicht, daß ein Staa-<lb/>
ten&#x017F;y&#x017F;tem, in dem bloßer Egoismus das Princip<lb/>
wird, &#x017F;ich &#x017F;einer Auflo&#x0364;&#x017F;ung na&#x0364;hert? Vor allem<lb/>
ein Sy&#x017F;tem &#x017F;o ungleicher Staaten, wie das Euro-<lb/>
pa&#x0364;i&#x017F;che, das bisher &#x017F;o oft nur durch <hi rendition="#g">Verbindun-<lb/>
gen</hi> gegen den Ueberma&#x0364;chtigen &#x017F;ich aufrecht erhielt?<lb/>
Die Erfahrung zeigte bald, daß Verbindungen mit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Auf-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[532/0570] III. Periode. 6. Wenn aber dieſe politiſchen Stuͤtzen ſchwankten; ſo waren die moraliſchen faſt gaͤnz- lich umgeſtuͤrzt. Die Grundlage jedes Staaten- ſyſtems, die Heiligkeit des rechtmaͤßigen Beſitzes, ohne welche es nur einen Krieg Aller gegen Alle giebt, war dahin; die Politik hatte bereits in Po- len ihren Schleyer abgelegt; die Arrondirungsſucht hatte geſiegt. Fiel nicht gleich Alles zuſammen, ſo waren es nicht mehr anerkannte Grundſaͤtze des Voͤlkerrechts, ſondern wandelbare Verhaͤltniſſe, die ſchuͤtzten. Das unaufloͤsliche Band zwiſchen Sit- ten und Politik hatte zur Folge, daß der Ego- ismus das herrſchende Princip auch des oͤffentlichen wie des Privatlebens ward. Der ungluͤckliche Wahn, von den Statiſtikern genaͤhrt, der die Staatsmacht nur nach den materiellen Kraͤften mißt, und den Wachsthum derſelben nur nach Quadratmeilen und Geldeinnahme ſchaͤtzt, hatte un- ausrottbare Wurzeln gefaßt. 7. Und doch, wer ſieht nicht, daß ein Staa- tenſyſtem, in dem bloßer Egoismus das Princip wird, ſich ſeiner Aufloͤſung naͤhert? Vor allem ein Syſtem ſo ungleicher Staaten, wie das Euro- paͤiſche, das bisher ſo oft nur durch Verbindun- gen gegen den Uebermaͤchtigen ſich aufrecht erhielt? Die Erfahrung zeigte bald, daß Verbindungen mit Auf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809/570
Zitationshilfe: Heeren, Arnold H. L.: Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Göttingen, 1809, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809/570>, abgerufen am 27.04.2024.