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Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.

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dessen ich gedachte, auf sein Körnlein Wahrheit
reducirt, es ist gezeigt, daß der echte dramatische
Darstellungs-Proceß ganz von selbst und ohne
nach der Bühne zu blinzeln, alles Geistige
verleiblichen
, daß er die dualistischen Ideen-
Factoren
, aus deren Aneinanderprallen der
das ganze Kunstwerk entzündende schöpferische
Funke hervor springt, zu Characteren verdich-
ten
, daß er das innere Ereigniß nach allen seinen
Entwickelungsstadien in einer äußeren Geschichte,
einer Anecdote, auseinander fallen und diese Anec-
dote, dem Steigerungs-Gesetz der Form gemäß,
zur Spitze auslaufen lassen, also spannend und
Interesse erweckend gestalten, und so auch denje-
nigen Theil der Leser- und Zuschauerschaft, der die
wahre Handlung gar nicht ahnt, amüsiren und
zufrieden stellen wird.

Kann aber, ich darf diese Frage nicht umgehen,
die so weit fortgeschrittene Philosophie die große
Aufgabe der Zeit nicht allein lösen, und ist der
Standpunkt der Kunst nicht als ein überwundener
oder ein doch zu überwindender zu betrachten? Wenn
die Kunst Nichts weiter wäre, als was die Meisten

deſſen ich gedachte, auf ſein Körnlein Wahrheit
reducirt, es iſt gezeigt, daß der echte dramatiſche
Darſtellungs-Proceß ganz von ſelbſt und ohne
nach der Bühne zu blinzeln, alles Geiſtige
verleiblichen
, daß er die dualiſtiſchen Ideen-
Factoren
, aus deren Aneinanderprallen der
das ganze Kunſtwerk entzündende ſchöpferiſche
Funke hervor ſpringt, zu Characteren verdich-
ten
, daß er das innere Ereigniß nach allen ſeinen
Entwickelungsſtadien in einer äußeren Geſchichte,
einer Anecdote, auseinander fallen und dieſe Anec-
dote, dem Steigerungs-Geſetz der Form gemäß,
zur Spitze auslaufen laſſen, alſo ſpannend und
Intereſſe erweckend geſtalten, und ſo auch denje-
nigen Theil der Leſer- und Zuſchauerſchaft, der die
wahre Handlung gar nicht ahnt, amüſiren und
zufrieden ſtellen wird.

Kann aber, ich darf dieſe Frage nicht umgehen,
die ſo weit fortgeſchrittene Philoſophie die große
Aufgabe der Zeit nicht allein löſen, und iſt der
Standpunkt der Kunſt nicht als ein überwundener
oder ein doch zu überwindender zu betrachten? Wenn
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[XXIX/0049] deſſen ich gedachte, auf ſein Körnlein Wahrheit reducirt, es iſt gezeigt, daß der echte dramatiſche Darſtellungs-Proceß ganz von ſelbſt und ohne nach der Bühne zu blinzeln, alles Geiſtige verleiblichen, daß er die dualiſtiſchen Ideen- Factoren, aus deren Aneinanderprallen der das ganze Kunſtwerk entzündende ſchöpferiſche Funke hervor ſpringt, zu Characteren verdich- ten, daß er das innere Ereigniß nach allen ſeinen Entwickelungsſtadien in einer äußeren Geſchichte, einer Anecdote, auseinander fallen und dieſe Anec- dote, dem Steigerungs-Geſetz der Form gemäß, zur Spitze auslaufen laſſen, alſo ſpannend und Intereſſe erweckend geſtalten, und ſo auch denje- nigen Theil der Leſer- und Zuſchauerſchaft, der die wahre Handlung gar nicht ahnt, amüſiren und zufrieden ſtellen wird. Kann aber, ich darf dieſe Frage nicht umgehen, die ſo weit fortgeſchrittene Philoſophie die große Aufgabe der Zeit nicht allein löſen, und iſt der Standpunkt der Kunſt nicht als ein überwundener oder ein doch zu überwindender zu betrachten? Wenn die Kunſt Nichts weiter wäre, als was die Meiſten

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Zitationshilfe: Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. XXIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/49>, abgerufen am 20.04.2024.