Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

in ihr erblicken, ein träumerisches, hin und wieder
durch einen sogenannten ironischen Einfall über sich
selbst unterbrochenes Fortspinnen der Erschei-
nungswelt, eine gleichsam von dem äußeren Thea-
ter auf's innere versetzte Gestalten-Komödie, worin
die verhüllte Idee nach, wie vor, mit sich selbst
Versteckens spielt, so müßte man darauf unbedingt
mit Ja antworten, und ihr auflegen, die vier-
tausendjährige Sünde einer angemaßten Existenz mit
einem freiwilligen Tode zu büßen, ja selbst die
ewige Ruhe nicht als einen, durch ihre erst jetzt
überflüssig gewordene Thätigkeit verdienten Lohn,
sondern nur als ein ihr aus Rücksicht auf den von
ihr der Menschheit in ihren Kinderjahren durch ihre
nicht ganz sinnlosen Bilder und Hieroglyphen ver-
schafften nützlichen Zeitvertreib bewilligtes Gnaden-
geschenk hinzunehmen. Aber die Kunst ist nicht bloß
unendlich viel mehr, sie ist etwas ganz Anderes,
sie ist die realisirte Philosophie, wie die
Welt die realisirte Idee, und eine Philosophie,
die nicht mit ihr schließen, die nicht selbst in ihr zur
Erscheinung werden, und dadurch den höchsten Be-
weis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht

in ihr erblicken, ein träumeriſches, hin und wieder
durch einen ſogenannten ironiſchen Einfall über ſich
ſelbſt unterbrochenes Fortſpinnen der Erſchei-
nungswelt, eine gleichſam von dem äußeren Thea-
ter auf’s innere verſetzte Geſtalten-Komödie, worin
die verhüllte Idee nach, wie vor, mit ſich ſelbſt
Verſteckens ſpielt, ſo müßte man darauf unbedingt
mit Ja antworten, und ihr auflegen, die vier-
tauſendjährige Sünde einer angemaßten Exiſtenz mit
einem freiwilligen Tode zu büßen, ja ſelbſt die
ewige Ruhe nicht als einen, durch ihre erſt jetzt
überflüſſig gewordene Thätigkeit verdienten Lohn,
ſondern nur als ein ihr aus Rückſicht auf den von
ihr der Menſchheit in ihren Kinderjahren durch ihre
nicht ganz ſinnloſen Bilder und Hieroglyphen ver-
ſchafften nützlichen Zeitvertreib bewilligtes Gnaden-
geſchenk hinzunehmen. Aber die Kunſt iſt nicht bloß
unendlich viel mehr, ſie iſt etwas ganz Anderes,
ſie iſt die realiſirte Philoſophie, wie die
Welt die realiſirte Idee, und eine Philoſophie,
die nicht mit ihr ſchließen, die nicht ſelbſt in ihr zur
Erſcheinung werden, und dadurch den höchſten Be-
weis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0050" n="XXX"/>
in ihr erblicken, ein träumeri&#x017F;ches, hin und wieder<lb/>
durch einen &#x017F;ogenannten ironi&#x017F;chen Einfall über &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t unterbrochenes <hi rendition="#g">Fort&#x017F;pinnen</hi> der Er&#x017F;chei-<lb/>
nungswelt, eine gleich&#x017F;am von dem äußeren Thea-<lb/>
ter auf&#x2019;s innere ver&#x017F;etzte Ge&#x017F;talten-Komödie, worin<lb/>
die verhüllte Idee nach, wie vor, mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
Ver&#x017F;teckens &#x017F;pielt, &#x017F;o müßte man darauf unbedingt<lb/>
mit Ja antworten, und ihr auflegen, die vier-<lb/>
tau&#x017F;endjährige Sünde einer angemaßten Exi&#x017F;tenz mit<lb/>
einem freiwilligen Tode zu büßen, ja &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/>
ewige Ruhe nicht als einen, durch ihre er&#x017F;t jetzt<lb/>
überflü&#x017F;&#x017F;ig gewordene Thätigkeit verdienten Lohn,<lb/>
&#x017F;ondern nur als ein ihr aus Rück&#x017F;icht auf den von<lb/>
ihr der Men&#x017F;chheit <hi rendition="#g">in</hi> ihren Kinderjahren durch ihre<lb/>
nicht ganz &#x017F;innlo&#x017F;en Bilder und Hieroglyphen ver-<lb/>
&#x017F;chafften nützlichen Zeitvertreib bewilligtes Gnaden-<lb/>
ge&#x017F;chenk hinzunehmen. Aber die Kun&#x017F;t i&#x017F;t nicht bloß<lb/>
unendlich viel <hi rendition="#g">mehr</hi>, &#x017F;ie i&#x017F;t etwas ganz <hi rendition="#g">Anderes</hi>,<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t die <hi rendition="#g">reali&#x017F;irte Philo&#x017F;ophie</hi>, wie die<lb/><hi rendition="#g">Welt</hi> die <hi rendition="#g">reali&#x017F;irte Idee</hi>, und eine Philo&#x017F;ophie,<lb/>
die nicht mit ihr &#x017F;chließen, die nicht &#x017F;elb&#x017F;t in ihr zur<lb/>
Er&#x017F;cheinung werden, und dadurch den höch&#x017F;ten Be-<lb/>
weis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XXX/0050] in ihr erblicken, ein träumeriſches, hin und wieder durch einen ſogenannten ironiſchen Einfall über ſich ſelbſt unterbrochenes Fortſpinnen der Erſchei- nungswelt, eine gleichſam von dem äußeren Thea- ter auf’s innere verſetzte Geſtalten-Komödie, worin die verhüllte Idee nach, wie vor, mit ſich ſelbſt Verſteckens ſpielt, ſo müßte man darauf unbedingt mit Ja antworten, und ihr auflegen, die vier- tauſendjährige Sünde einer angemaßten Exiſtenz mit einem freiwilligen Tode zu büßen, ja ſelbſt die ewige Ruhe nicht als einen, durch ihre erſt jetzt überflüſſig gewordene Thätigkeit verdienten Lohn, ſondern nur als ein ihr aus Rückſicht auf den von ihr der Menſchheit in ihren Kinderjahren durch ihre nicht ganz ſinnloſen Bilder und Hieroglyphen ver- ſchafften nützlichen Zeitvertreib bewilligtes Gnaden- geſchenk hinzunehmen. Aber die Kunſt iſt nicht bloß unendlich viel mehr, ſie iſt etwas ganz Anderes, ſie iſt die realiſirte Philoſophie, wie die Welt die realiſirte Idee, und eine Philoſophie, die nicht mit ihr ſchließen, die nicht ſelbſt in ihr zur Erſcheinung werden, und dadurch den höchſten Be- weis ihrer Realität geben will, braucht auch nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/50
Zitationshilfe: Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. XXX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/50>, abgerufen am 27.04.2024.