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Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.

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in seiner consequenten Ausbildung, und hat der
Literatur der Welt in dem Stücke: das Leben ein
Traum! ein unvergängliches Symbol einverleibt,
aber es enthält nur Vergangenheit, keine Zukunft,
es setzt in seiner starren Abhängigkeit vom Dogma
voraus, was es beweisen soll, und nimmt daher,
wenn auch nicht der Form, so doch dem Gehalt
nach, nur eine untergeordnete Stellung ein.

Allein Goethe hat nur den Weg gewiesen, man
kann kaum sagen, daß er den ersten Schritt gethan
hat, denn im Faust kehrte er, als er zu hoch hinauf,
und in die kalte Region hinein gerieth, wo das
Blut zu gefrieren anfängt, wieder um, und in den
Wahlverwandtschaften setzte er, wie Calderon, vor-
aus, was er zu beweisen oder zu veranschaulichen
hatte. Wie Goethe, der durchaus Künstler, großer
Künstler, war, in den Wahlverwandtschaften einen
solchen Verstoß gegen die innere Form begehen
konnte, daß er, einem zerstreuten Zergliederer nicht
unähnlich, der, statt eines wirklichen Körpers, ein
Automat auf das anatomische Theater brächte, eine
von Haus aus nichtige, ja unsittliche Ehe, wie die
zwischen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt

in ſeiner conſequenten Ausbildung, und hat der
Literatur der Welt in dem Stücke: das Leben ein
Traum! ein unvergängliches Symbol einverleibt,
aber es enthält nur Vergangenheit, keine Zukunft,
es ſetzt in ſeiner ſtarren Abhängigkeit vom Dogma
voraus, was es beweiſen ſoll, und nimmt daher,
wenn auch nicht der Form, ſo doch dem Gehalt
nach, nur eine untergeordnete Stellung ein.

Allein Goethe hat nur den Weg gewieſen, man
kann kaum ſagen, daß er den erſten Schritt gethan
hat, denn im Fauſt kehrte er, als er zu hoch hinauf,
und in die kalte Region hinein gerieth, wo das
Blut zu gefrieren anfängt, wieder um, und in den
Wahlverwandtſchaften ſetzte er, wie Calderon, vor-
aus, was er zu beweiſen oder zu veranſchaulichen
hatte. Wie Goethe, der durchaus Künſtler, großer
Künſtler, war, in den Wahlverwandtſchaften einen
ſolchen Verſtoß gegen die innere Form begehen
konnte, daß er, einem zerſtreuten Zergliederer nicht
unähnlich, der, ſtatt eines wirklichen Körpers, ein
Automat auf das anatomiſche Theater brächte, eine
von Haus aus nichtige, ja unſittliche Ehe, wie die
zwiſchen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt

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[V/0025] in ſeiner conſequenten Ausbildung, und hat der Literatur der Welt in dem Stücke: das Leben ein Traum! ein unvergängliches Symbol einverleibt, aber es enthält nur Vergangenheit, keine Zukunft, es ſetzt in ſeiner ſtarren Abhängigkeit vom Dogma voraus, was es beweiſen ſoll, und nimmt daher, wenn auch nicht der Form, ſo doch dem Gehalt nach, nur eine untergeordnete Stellung ein. Allein Goethe hat nur den Weg gewieſen, man kann kaum ſagen, daß er den erſten Schritt gethan hat, denn im Fauſt kehrte er, als er zu hoch hinauf, und in die kalte Region hinein gerieth, wo das Blut zu gefrieren anfängt, wieder um, und in den Wahlverwandtſchaften ſetzte er, wie Calderon, vor- aus, was er zu beweiſen oder zu veranſchaulichen hatte. Wie Goethe, der durchaus Künſtler, großer Künſtler, war, in den Wahlverwandtſchaften einen ſolchen Verſtoß gegen die innere Form begehen konnte, daß er, einem zerſtreuten Zergliederer nicht unähnlich, der, ſtatt eines wirklichen Körpers, ein Automat auf das anatomiſche Theater brächte, eine von Haus aus nichtige, ja unſittliche Ehe, wie die zwiſchen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt

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Zitationshilfe: Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. V. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/25>, abgerufen am 25.04.2024.