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Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.

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einer Kette von Jahrhunderten, die sich schließen
und einer neuen, die beginnen will.

Bis jetzt hat die Geschichte erst zwei Krisen
aufzuzeigen, in welchen das höchste Drama hervor-
treten konnte, es ist demgemäß auch erst zwei Mal
hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die an-
tike Welt-Anschauung aus ihrer ursprünglichen Nai-
vetät in das sie zunächst auflockernde und dann
zerstörende Moment der Reflexion überging, und
einmal bei den Neuern, als in der christlichen
eine ähnliche Selbst-Entzweiung eintrat. Das grie-
chische Drama entfaltete sich, als der Paganismus
sich überlebt hatte und verschlang ihn, es legte den
durch alle die bunten Götter-Gestalten des Olymps
sich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder,
wenn man will, es gestaltete das Fatum. Daher
das maaßlose Herabdrücken des Individuums, den
sittlichen Mächten gegenüber, mit denen es sich in
einen doch nicht zufälligen, sondern nothwendigen
Kampf verstrickt sieht, wie es im Oedyp den Schwin-
del erregenden Höhepunct erreicht. Das Shakspearsche
Drama entwickelte sich am Protestantismus und
emanzipirte das Individuum. Daher die furcht-

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einer Kette von Jahrhunderten, die ſich ſchließen
und einer neuen, die beginnen will.

Bis jetzt hat die Geſchichte erſt zwei Kriſen
aufzuzeigen, in welchen das höchſte Drama hervor-
treten konnte, es iſt demgemäß auch erſt zwei Mal
hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die an-
tike Welt-Anſchauung aus ihrer urſprünglichen Nai-
vetät in das ſie zunächſt auflockernde und dann
zerſtörende Moment der Reflexion überging, und
einmal bei den Neuern, als in der chriſtlichen
eine ähnliche Selbſt-Entzweiung eintrat. Das grie-
chiſche Drama entfaltete ſich, als der Paganismus
ſich überlebt hatte und verſchlang ihn, es legte den
durch alle die bunten Götter-Geſtalten des Olymps
ſich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder,
wenn man will, es geſtaltete das Fatum. Daher
das maaßloſe Herabdrücken des Individuums, den
ſittlichen Mächten gegenüber, mit denen es ſich in
einen doch nicht zufälligen, ſondern nothwendigen
Kampf verſtrickt ſieht, wie es im Oedyp den Schwin-
del erregenden Höhepunct erreicht. Das Shakſpearſche
Drama entwickelte ſich am Proteſtantismus und
emanzipirte das Individuum. Daher die furcht-

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[III/0023] einer Kette von Jahrhunderten, die ſich ſchließen und einer neuen, die beginnen will. Bis jetzt hat die Geſchichte erſt zwei Kriſen aufzuzeigen, in welchen das höchſte Drama hervor- treten konnte, es iſt demgemäß auch erſt zwei Mal hervorgetreten: einmal bei den Alten, als die an- tike Welt-Anſchauung aus ihrer urſprünglichen Nai- vetät in das ſie zunächſt auflockernde und dann zerſtörende Moment der Reflexion überging, und einmal bei den Neuern, als in der chriſtlichen eine ähnliche Selbſt-Entzweiung eintrat. Das grie- chiſche Drama entfaltete ſich, als der Paganismus ſich überlebt hatte und verſchlang ihn, es legte den durch alle die bunten Götter-Geſtalten des Olymps ſich hindurchziehenden Nerv der Idee bloß, oder, wenn man will, es geſtaltete das Fatum. Daher das maaßloſe Herabdrücken des Individuums, den ſittlichen Mächten gegenüber, mit denen es ſich in einen doch nicht zufälligen, ſondern nothwendigen Kampf verſtrickt ſieht, wie es im Oedyp den Schwin- del erregenden Höhepunct erreicht. Das Shakſpearſche Drama entwickelte ſich am Proteſtantismus und emanzipirte das Individuum. Daher die furcht- a*

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Zitationshilfe: Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. III. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/23>, abgerufen am 23.04.2024.