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Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847.

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das Lesen der Klassiker denkt, und ist er einmal von
den Wogen des Lebens ergriffen, so fehlt es ihm
später auch bei dem besten Willen oft an Zeit. Er
hat nur todte Sprachformen gelernt; die großen Denker
aber, die in jenen Sprachen geschrieben, und woran
er sich eigentlich bilden könnte, bleiben ihm zeitlebens
unbekannt.

Es ist nur zu wahr, daß die Alten uns durch
die Schule verleidet werden. So klagt Byron, daß
er nie den Horaz habe genießen können, weil die Erin-
nerung seiner Schuljahre an den Oden dieses Lieblings
aller Grazien klebe.

Wer zweifelt daran, daß das vernünftige Stu-
dium der Alten eine vortreffliche Uebung für Ge-
dächtniß und Urtheil sei? Giebt es aber nicht zweck-
mäßigere und für die große Mehrzahl nützlichere
Gegenstände, die denselben Vortheil bieten?

Kann der Deutsche z. B. an den classischen
Schriftstellern seines Vaterlandes, so wie an englischen
und französischen Autoren, nicht eben so gut sein
Gedächtniß und seinen Verstand als an todten Sprach-
formen üben? Haben nicht Männer in diesen lebenden
Sprachen geschrieben, deren Schriften eben so gut
das Lesen und Wiederlesen verdienen, wie die Werke
der Alten? Gibt es nicht vortreffliche Uebersetzungen
der vorzüglichsten classischen Autoren? Haben nicht
Männer wie Göthe und Schiller, deren Kenntniß

das Leſen der Klaſſiker denkt, und iſt er einmal von
den Wogen des Lebens ergriffen, ſo fehlt es ihm
ſpaͤter auch bei dem beſten Willen oft an Zeit. Er
hat nur todte Sprachformen gelernt; die großen Denker
aber, die in jenen Sprachen geſchrieben, und woran
er ſich eigentlich bilden koͤnnte, bleiben ihm zeitlebens
unbekannt.

Es iſt nur zu wahr, daß die Alten uns durch
die Schule verleidet werden. So klagt Byron, daß
er nie den Horaz habe genießen koͤnnen, weil die Erin-
nerung ſeiner Schuljahre an den Oden dieſes Lieblings
aller Grazien klebe.

Wer zweifelt daran, daß das vernuͤnftige Stu-
dium der Alten eine vortreffliche Uebung für Ge-
daͤchtniß und Urtheil ſei? Giebt es aber nicht zweck-
maͤßigere und fuͤr die große Mehrzahl nuͤtzlichere
Gegenſtaͤnde, die denſelben Vortheil bieten?

Kann der Deutſche z. B. an den claſſiſchen
Schriftſtellern ſeines Vaterlandes, ſo wie an engliſchen
und franzoͤſiſchen Autoren, nicht eben ſo gut ſein
Gedaͤchtniß und ſeinen Verſtand als an todten Sprach-
formen uͤben? Haben nicht Maͤnner in dieſen lebenden
Sprachen geſchrieben, deren Schriften eben ſo gut
das Leſen und Wiederleſen verdienen, wie die Werke
der Alten? Gibt es nicht vortreffliche Ueberſetzungen
der vorzüglichſten claſſiſchen Autoren? Haben nicht
Maͤnner wie Goͤthe und Schiller, deren Kenntniß

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[120/0130] das Leſen der Klaſſiker denkt, und iſt er einmal von den Wogen des Lebens ergriffen, ſo fehlt es ihm ſpaͤter auch bei dem beſten Willen oft an Zeit. Er hat nur todte Sprachformen gelernt; die großen Denker aber, die in jenen Sprachen geſchrieben, und woran er ſich eigentlich bilden koͤnnte, bleiben ihm zeitlebens unbekannt. Es iſt nur zu wahr, daß die Alten uns durch die Schule verleidet werden. So klagt Byron, daß er nie den Horaz habe genießen koͤnnen, weil die Erin- nerung ſeiner Schuljahre an den Oden dieſes Lieblings aller Grazien klebe. Wer zweifelt daran, daß das vernuͤnftige Stu- dium der Alten eine vortreffliche Uebung für Ge- daͤchtniß und Urtheil ſei? Giebt es aber nicht zweck- maͤßigere und fuͤr die große Mehrzahl nuͤtzlichere Gegenſtaͤnde, die denſelben Vortheil bieten? Kann der Deutſche z. B. an den claſſiſchen Schriftſtellern ſeines Vaterlandes, ſo wie an engliſchen und franzoͤſiſchen Autoren, nicht eben ſo gut ſein Gedaͤchtniß und ſeinen Verſtand als an todten Sprach- formen uͤben? Haben nicht Maͤnner in dieſen lebenden Sprachen geſchrieben, deren Schriften eben ſo gut das Leſen und Wiederleſen verdienen, wie die Werke der Alten? Gibt es nicht vortreffliche Ueberſetzungen der vorzüglichſten claſſiſchen Autoren? Haben nicht Maͤnner wie Goͤthe und Schiller, deren Kenntniß

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Zitationshilfe: Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/130>, abgerufen am 27.04.2024.