Der Knabe kennt die Thaten eines Attila oder eines bluttriefenden Nero; von den stillen Tugenden eines Franclin weiß er nichts.
Die meisten Verständigen sind darüber einig, daß mit dem Studium der alten Sprachen, so wie es gewöhnlich betrieben wird, entsetzlich viel Zeit ver- loren geht.
Die Meisten, die jahrelang lateinisch und griechisch auf Schulen getrieben haben, bringen es nie so weit, daß sie die classischen Autoren mit Leichtigkeit und Genuß lesen lernen. Gewiß ist es nicht übertrieben, zu behaupten, daß außer den Philologen und Fach- gelehrten, von hundert Schülern, die alle Klassen der Gymnasien durchgemacht haben, und von dort zur Universität übergehen, nicht einmal fünf, in ihrem ganzen spätern Leben, die Autoren je wieder ansehen, mit deren Verständniß sie sich 7 oder 8 Jahre abgemüht hatten. Wie kömmt es nun, daß die Meisten, gerade zu einer Zeit, wo sie hoffen könnten in den Geist der großen Schriftsteller des Alterthums einzudringen, sie so gänzlich bei Seite legen? Die Art und Weise wie jene Sprachen gelehrt werden, trägt an dieser Vernachlässigung die größte Schuld.
Während der Jahre, die er auf dem Gymnasium zugebracht, ist der Schüler mit lateinischer und grie- chischer Grammatik so übersättigt worden, daß er nach aufgehobenem Zwange an nichts weniger als an
Der Knabe kennt die Thaten eines Attila oder eines bluttriefenden Nero; von den ſtillen Tugenden eines Franclin weiß er nichts.
Die meiſten Verſtaͤndigen ſind daruͤber einig, daß mit dem Studium der alten Sprachen, ſo wie es gewoͤhnlich betrieben wird, entſetzlich viel Zeit ver- loren geht.
Die Meiſten, die jahrelang lateiniſch und griechiſch auf Schulen getrieben haben, bringen es nie ſo weit, daß ſie die claſſiſchen Autoren mit Leichtigkeit und Genuß leſen lernen. Gewiß iſt es nicht uͤbertrieben, zu behaupten, daß außer den Philologen und Fach- gelehrten, von hundert Schuͤlern, die alle Klaſſen der Gymnaſien durchgemacht haben, und von dort zur Univerſitaͤt uͤbergehen, nicht einmal fuͤnf, in ihrem ganzen ſpaͤtern Leben, die Autoren je wieder anſehen, mit deren Verſtaͤndniß ſie ſich 7 oder 8 Jahre abgemuͤht hatten. Wie koͤmmt es nun, daß die Meiſten, gerade zu einer Zeit, wo ſie hoffen koͤnnten in den Geiſt der großen Schriftſteller des Alterthums einzudringen, ſie ſo gaͤnzlich bei Seite legen? Die Art und Weiſe wie jene Sprachen gelehrt werden, traͤgt an dieſer Vernachlaͤſſigung die groͤßte Schuld.
Waͤhrend der Jahre, die er auf dem Gymnaſium zugebracht, iſt der Schuͤler mit lateiniſcher und grie- chiſcher Grammatik ſo uͤberſaͤttigt worden, daß er nach aufgehobenem Zwange an nichts weniger als an
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Der Knabe kennt die Thaten eines Attila oder
eines bluttriefenden Nero; von den ſtillen Tugenden
eines Franclin weiß er nichts.
Die meiſten Verſtaͤndigen ſind daruͤber einig, daß
mit dem Studium der alten Sprachen, ſo wie es
gewoͤhnlich betrieben wird, entſetzlich viel Zeit ver-
loren geht.
Die Meiſten, die jahrelang lateiniſch und griechiſch
auf Schulen getrieben haben, bringen es nie ſo weit,
daß ſie die claſſiſchen Autoren mit Leichtigkeit und
Genuß leſen lernen. Gewiß iſt es nicht uͤbertrieben,
zu behaupten, daß außer den Philologen und Fach-
gelehrten, von hundert Schuͤlern, die alle Klaſſen
der Gymnaſien durchgemacht haben, und von dort
zur Univerſitaͤt uͤbergehen, nicht einmal fuͤnf, in
ihrem ganzen ſpaͤtern Leben, die Autoren je wieder
anſehen, mit deren Verſtaͤndniß ſie ſich 7 oder 8
Jahre abgemuͤht hatten. Wie koͤmmt es nun, daß die
Meiſten, gerade zu einer Zeit, wo ſie hoffen koͤnnten
in den Geiſt der großen Schriftſteller des Alterthums
einzudringen, ſie ſo gaͤnzlich bei Seite legen? Die
Art und Weiſe wie jene Sprachen gelehrt werden,
traͤgt an dieſer Vernachlaͤſſigung die groͤßte Schuld.
Waͤhrend der Jahre, die er auf dem Gymnaſium
zugebracht, iſt der Schuͤler mit lateiniſcher und grie-
chiſcher Grammatik ſo uͤberſaͤttigt worden, daß er
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Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/129>, abgerufen am 22.07.2024.
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