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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776.

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Leben u. Tod der Menschen. XXX. B.

Nach dem Gedächtnisse fängt der Witz an, sich her-
vorzuthun. Es verträgt freylich die unbeständige und
unruhige Seele noch keine lange Ketten von Vernunft-
schlüssen: indessen bemerkt sie doch diejenigen Dinge
welche ihr vor die Augen kommen, und sie fällt darüber
oftmals feine Urtheile.

Jndessen ist doch das Gedächtniß zuerst bei der Hand,
und es hat nur die Vernunft in seinem Gefolge. Die-
ses Gedächtniß entstehet von denen lebhaften Eindrücken,
welche die Neuigkeit begleiten, und von einem besondern
Grade der Weichheit, welcher geschikkt ist, den Ein-
drukk aufzufangen, dergleichen bei einem schon härteren
Gehirne nicht da ist; und es ist dieser Grad fähig, den
Eindrukk zu behalten, welcher bei dem flüßigen Gehirne
der Kindheit nicht sowol Statt finden kann.

Der Witz verlangt bereits einen Vorrath von Jdeen,
die das Gedächtniß aufbehalten muß, und mit diesen
Jdeen vergleicht das Kind diejenige neue Jdeen, welche
ihm vorkommen: es hängt nemlich von dieser Verglei-
chung die Entdekkung derjenigen Aenlichkeiten ab, wo-
mit es die Natur des Wizzes zu thun hat; folglich wird
der Wizz von dem Gedächtnisse der Kinder unterstüzzt,
welches ihnen sogleich zu Diensten stehet: wenn hierzu
noch eine Geschwindigkeit kömmt, womit sie sich die Theile
der Begriffe, sowol im Gedächtnisse, als in dem neuen
Begriffe, in der Seele vorstellen. Es verursacht nem-
lich die Geschwindigkeit dieser Begriffe, mit welcher sie
die Jdeen betrachten, und wie diese Jdeen hintereinander
folgen, daß so oft als zwei Stükke der Begriffe einander
ähnlich sind, die Seele diese Aehnlichkeit gewahr wird.

Viel später als das Gedächtniß und der Wizz ge-
langt die Urtheilskraft zu ihrer Reife. Kinder haben
den Fehler, daß sie von einer Sache zur andern laufen,
daß sie die Veränderung lieben, und daß sie beinahe

ge-
Leben u. Tod der Menſchen. XXX. B.

Nach dem Gedaͤchtniſſe faͤngt der Witz an, ſich her-
vorzuthun. Es vertraͤgt freylich die unbeſtaͤndige und
unruhige Seele noch keine lange Ketten von Vernunft-
ſchluͤſſen: indeſſen bemerkt ſie doch diejenigen Dinge
welche ihr vor die Augen kommen, und ſie faͤllt daruͤber
oftmals feine Urtheile.

Jndeſſen iſt doch das Gedaͤchtniß zuerſt bei der Hand,
und es hat nur die Vernunft in ſeinem Gefolge. Die-
ſes Gedaͤchtniß entſtehet von denen lebhaften Eindruͤcken,
welche die Neuigkeit begleiten, und von einem beſondern
Grade der Weichheit, welcher geſchikkt iſt, den Ein-
drukk aufzufangen, dergleichen bei einem ſchon haͤrteren
Gehirne nicht da iſt; und es iſt dieſer Grad faͤhig, den
Eindrukk zu behalten, welcher bei dem fluͤßigen Gehirne
der Kindheit nicht ſowol Statt finden kann.

Der Witz verlangt bereits einen Vorrath von Jdeen,
die das Gedaͤchtniß aufbehalten muß, und mit dieſen
Jdeen vergleicht das Kind diejenige neue Jdeen, welche
ihm vorkommen: es haͤngt nemlich von dieſer Verglei-
chung die Entdekkung derjenigen Aenlichkeiten ab, wo-
mit es die Natur des Wizzes zu thun hat; folglich wird
der Wizz von dem Gedaͤchtniſſe der Kinder unterſtuͤzzt,
welches ihnen ſogleich zu Dienſten ſtehet: wenn hierzu
noch eine Geſchwindigkeit koͤmmt, womit ſie ſich die Theile
der Begriffe, ſowol im Gedaͤchtniſſe, als in dem neuen
Begriffe, in der Seele vorſtellen. Es verurſacht nem-
lich die Geſchwindigkeit dieſer Begriffe, mit welcher ſie
die Jdeen betrachten, und wie dieſe Jdeen hintereinander
folgen, daß ſo oft als zwei Stuͤkke der Begriffe einander
aͤhnlich ſind, die Seele dieſe Aehnlichkeit gewahr wird.

Viel ſpaͤter als das Gedaͤchtniß und der Wizz ge-
langt die Urtheilskraft zu ihrer Reife. Kinder haben
den Fehler, daß ſie von einer Sache zur andern laufen,
daß ſie die Veraͤnderung lieben, und daß ſie beinahe

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[814[816]/0868] Leben u. Tod der Menſchen. XXX. B. Nach dem Gedaͤchtniſſe faͤngt der Witz an, ſich her- vorzuthun. Es vertraͤgt freylich die unbeſtaͤndige und unruhige Seele noch keine lange Ketten von Vernunft- ſchluͤſſen: indeſſen bemerkt ſie doch diejenigen Dinge welche ihr vor die Augen kommen, und ſie faͤllt daruͤber oftmals feine Urtheile. Jndeſſen iſt doch das Gedaͤchtniß zuerſt bei der Hand, und es hat nur die Vernunft in ſeinem Gefolge. Die- ſes Gedaͤchtniß entſtehet von denen lebhaften Eindruͤcken, welche die Neuigkeit begleiten, und von einem beſondern Grade der Weichheit, welcher geſchikkt iſt, den Ein- drukk aufzufangen, dergleichen bei einem ſchon haͤrteren Gehirne nicht da iſt; und es iſt dieſer Grad faͤhig, den Eindrukk zu behalten, welcher bei dem fluͤßigen Gehirne der Kindheit nicht ſowol Statt finden kann. Der Witz verlangt bereits einen Vorrath von Jdeen, die das Gedaͤchtniß aufbehalten muß, und mit dieſen Jdeen vergleicht das Kind diejenige neue Jdeen, welche ihm vorkommen: es haͤngt nemlich von dieſer Verglei- chung die Entdekkung derjenigen Aenlichkeiten ab, wo- mit es die Natur des Wizzes zu thun hat; folglich wird der Wizz von dem Gedaͤchtniſſe der Kinder unterſtuͤzzt, welches ihnen ſogleich zu Dienſten ſtehet: wenn hierzu noch eine Geſchwindigkeit koͤmmt, womit ſie ſich die Theile der Begriffe, ſowol im Gedaͤchtniſſe, als in dem neuen Begriffe, in der Seele vorſtellen. Es verurſacht nem- lich die Geſchwindigkeit dieſer Begriffe, mit welcher ſie die Jdeen betrachten, und wie dieſe Jdeen hintereinander folgen, daß ſo oft als zwei Stuͤkke der Begriffe einander aͤhnlich ſind, die Seele dieſe Aehnlichkeit gewahr wird. Viel ſpaͤter als das Gedaͤchtniß und der Wizz ge- langt die Urtheilskraft zu ihrer Reife. Kinder haben den Fehler, daß ſie von einer Sache zur andern laufen, daß ſie die Veraͤnderung lieben, und daß ſie beinahe ge-

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776, S. 814[816]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende08_1776/868>, abgerufen am 22.11.2024.