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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 6. Berlin, 1774.

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Der Magen. XIX. Buch.
fünf und dreißigsten Grade wachsen. Eben diese geben
weniger Weingeist (b). Je mehr er Säure in sich hat,
desto weniger erwärmt er, desto weniger berauscht er,
man kann denselben in grösserer Menge trinken, und er
gehr leichter durch die Blase. So wachsen um den funf-
zigsten Grad die allersauerste Weine, der Moseler und
Rheinwein, deren Säure nur das lange Liegen von vie-
len Jahren brechen kann.

Je mehr ein Wein Oel und süsse Schmierigkeit hat,
desto weniger läst er sich durch den Schweis oder Urin
abführen, seine Wirkungen dauren länger, er berauscht
aber nicht so sehr. Jn dieser Wirksamkeit sind die Spa-
nischen und Malvasierweine den Schweizerischen nachzu-
sezzen, weil sie, wenn man sie kocht, von ihren Dämpfen
viel verlieren (c). Ob ein andrer Wein in kleinerer
Dose schon den Verstand benebelt, und die Füsse tau-
melnd macht, als der Martinsbacher im Valiserlande,
kann ich nicht sagen, weil sein feuriger Geschmakk dem
Weingeiste nicht viel nachgiebt; Niemand wird davon
halb so viel vertragen können, als von dem in der übri-
gen Schweiz wachsenden starken Weine.

Aller Wein ist eine Arzenei, und kein Getränke. Da
er ein saures Wesen enthält, so artet er im Magen zu
einem verdorbnen Tranke aus. Er löset Fleisch, Fett
und Sommerfrüchte nicht auf, um sie völlig zu bezwin-
gen, sondern er conservirt sie vielmehr. Er stillet vielwe-
niger den Durst, und ist fieberhaften Personen schädlich,
indem auf keinerlei Weise so viel Leichen werden, als nach
der unsinnigen Mode, da die Landleute den Kranken, die
am Fieber darnieder liegen, weil sie ihnen das beste, was
sie kennen, gerne gönnen, roten Wein reichen. Der Wein
soll zur Erzeugung des Steines sehr viel beitragen, und

es
(b) [Spaltenumbruch] LEMERY cours de chym.
P. II. p.
20.
(c) STAHL Fund. Chem. III.
[Spaltenumbruch] p.
51. Jn Kampanien LABAT
voy. d'Ital. IV. p.
32. Auf Sicilien
ibid. T. V. p. 151.

Der Magen. XIX. Buch.
fuͤnf und dreißigſten Grade wachſen. Eben dieſe geben
weniger Weingeiſt (b). Je mehr er Saͤure in ſich hat,
deſto weniger erwaͤrmt er, deſto weniger berauſcht er,
man kann denſelben in groͤſſerer Menge trinken, und er
gehr leichter durch die Blaſe. So wachſen um den funf-
zigſten Grad die allerſauerſte Weine, der Moſeler und
Rheinwein, deren Saͤure nur das lange Liegen von vie-
len Jahren brechen kann.

Je mehr ein Wein Oel und ſuͤſſe Schmierigkeit hat,
deſto weniger laͤſt er ſich durch den Schweis oder Urin
abfuͤhren, ſeine Wirkungen dauren laͤnger, er berauſcht
aber nicht ſo ſehr. Jn dieſer Wirkſamkeit ſind die Spa-
niſchen und Malvaſierweine den Schweizeriſchen nachzu-
ſezzen, weil ſie, wenn man ſie kocht, von ihren Daͤmpfen
viel verlieren (c). Ob ein andrer Wein in kleinerer
Doſe ſchon den Verſtand benebelt, und die Fuͤſſe tau-
melnd macht, als der Martinsbacher im Valiſerlande,
kann ich nicht ſagen, weil ſein feuriger Geſchmakk dem
Weingeiſte nicht viel nachgiebt; Niemand wird davon
halb ſo viel vertragen koͤnnen, als von dem in der uͤbri-
gen Schweiz wachſenden ſtarken Weine.

Aller Wein iſt eine Arzenei, und kein Getraͤnke. Da
er ein ſaures Weſen enthaͤlt, ſo artet er im Magen zu
einem verdorbnen Tranke aus. Er loͤſet Fleiſch, Fett
und Sommerfruͤchte nicht auf, um ſie voͤllig zu bezwin-
gen, ſondern er conſervirt ſie vielmehr. Er ſtillet vielwe-
niger den Durſt, und iſt fieberhaften Perſonen ſchaͤdlich,
indem auf keinerlei Weiſe ſo viel Leichen werden, als nach
der unſinnigen Mode, da die Landleute den Kranken, die
am Fieber darnieder liegen, weil ſie ihnen das beſte, was
ſie kennen, gerne goͤnnen, roten Wein reichen. Der Wein
ſoll zur Erzeugung des Steines ſehr viel beitragen, und

es
(b) [Spaltenumbruch] LEMERY cours de chym.
P. II. p.
20.
(c) STAHL Fund. Chem. III.
[Spaltenumbruch] p.
51. Jn Kampanien LABAT
voy. d’Ital. IV. p.
32. Auf Sicilien
ibid. T. V. p. 151.
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[356[372]/0392] Der Magen. XIX. Buch. fuͤnf und dreißigſten Grade wachſen. Eben dieſe geben weniger Weingeiſt (b). Je mehr er Saͤure in ſich hat, deſto weniger erwaͤrmt er, deſto weniger berauſcht er, man kann denſelben in groͤſſerer Menge trinken, und er gehr leichter durch die Blaſe. So wachſen um den funf- zigſten Grad die allerſauerſte Weine, der Moſeler und Rheinwein, deren Saͤure nur das lange Liegen von vie- len Jahren brechen kann. Je mehr ein Wein Oel und ſuͤſſe Schmierigkeit hat, deſto weniger laͤſt er ſich durch den Schweis oder Urin abfuͤhren, ſeine Wirkungen dauren laͤnger, er berauſcht aber nicht ſo ſehr. Jn dieſer Wirkſamkeit ſind die Spa- niſchen und Malvaſierweine den Schweizeriſchen nachzu- ſezzen, weil ſie, wenn man ſie kocht, von ihren Daͤmpfen viel verlieren (c). Ob ein andrer Wein in kleinerer Doſe ſchon den Verſtand benebelt, und die Fuͤſſe tau- melnd macht, als der Martinsbacher im Valiſerlande, kann ich nicht ſagen, weil ſein feuriger Geſchmakk dem Weingeiſte nicht viel nachgiebt; Niemand wird davon halb ſo viel vertragen koͤnnen, als von dem in der uͤbri- gen Schweiz wachſenden ſtarken Weine. Aller Wein iſt eine Arzenei, und kein Getraͤnke. Da er ein ſaures Weſen enthaͤlt, ſo artet er im Magen zu einem verdorbnen Tranke aus. Er loͤſet Fleiſch, Fett und Sommerfruͤchte nicht auf, um ſie voͤllig zu bezwin- gen, ſondern er conſervirt ſie vielmehr. Er ſtillet vielwe- niger den Durſt, und iſt fieberhaften Perſonen ſchaͤdlich, indem auf keinerlei Weiſe ſo viel Leichen werden, als nach der unſinnigen Mode, da die Landleute den Kranken, die am Fieber darnieder liegen, weil ſie ihnen das beſte, was ſie kennen, gerne goͤnnen, roten Wein reichen. Der Wein ſoll zur Erzeugung des Steines ſehr viel beitragen, und es (b) LEMERY cours de chym. P. II. p. 20. (c) STAHL Fund. Chem. III. p. 51. Jn Kampanien LABAT voy. d’Ital. IV. p. 32. Auf Sicilien ibid. T. V. p. 151.

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 6. Berlin, 1774, S. 356[372]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende06_1774/392>, abgerufen am 23.11.2024.