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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

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IV. Abschnitt. Das Sehen.
Es folgt also derjenige überhaupt, welcher liest, in der
Stille mit seinem Auge der Reihe der Buchstaben nach,
und spricht einen nach dem andern aus. Es ist zu ver-
muthen, daß sich derjenige Punkt, welchen wir auf das
allerdeutlichste sehen wollen, gegen das Ende der Seh-
achse zu drehe, wo überhaupt die stärksten und senkrechte
Strahlen auf die Nezzhaut fallen (u). Wenn wir uns
ja überreden, viele Dinge und dennoch deutlich zu sehen
(x), so ist dieses ein Jrrthum, welcher aus der Dauer
des Eindruks entstehet, den unser Auge empfunden hat.
Es vergehet nemlich nicht plözzlich, und ohne einen klei-
nen Zwischenraum von Zeit, so wie sich der erblikkte Kör-
per entfernt, auch zugleich das Bild desselben mit: son-
dern es bleibt noch dasselbe zurükke, und zwar um desto
länger, je lebhafter es war. Es ist nichts bekannter als
ein Stab, an dessen Ende blos die glühende Kohle leuch-
tet (y). Wenn man diesen Stab etwas schneller herum
schwingt, so sieht man sein Bild nicht unter der Gestalt
eines Stabes, sondern eines feurigen Kreises: welches ein
offenbarer Beweiß ist, daß der Eindrukk des Stabes
so lange fortgedauret habe, bis dessen Spizze nach Vol-
lendung des Cirkels an eben dem Punkt wieder zurükke
gekommen, aus welchem man ihn das erstemal erblikkte.
Auf eben diese Weise machen auch gefärbte Radii, wenn
sie wie ein Rad umgedrehet werden, einen weissen Schein
aus (z). Man hat diese Zeit wie lange das Bild dauern
soll, auf eine Secunde geschäzzt (a).

Auf solche Weise schwebt uns ein von der Sonne oder
an einem übermäßig hellen Körper betrachteter leuchtende

Flek-
(u) [Spaltenumbruch] SCHEINER p. 248. POR-
TERFIELD T. I. p.
103.
(x) SCHEINER p. 244. S' GRA-
VEZANDE n.
3107.
(y) PLEMP. IV probl. 20. MA-
RIOTTE p. 524 PORTERFIELD
Essays T. III. p.
186 & in selbigen
[Spaltenumbruch] Diario. II. p. 70. 71. NEWTON
p.
123.
(z) Phil. trans. abrigd. by LOW-
THORP T. I. p.
152.
(a) NEWTON Quer. 16. MUS-
SCHENBROEK p.
418. Besiehe
LOCKE II. c. 14.

IV. Abſchnitt. Das Sehen.
Es folgt alſo derjenige uͤberhaupt, welcher lieſt, in der
Stille mit ſeinem Auge der Reihe der Buchſtaben nach,
und ſpricht einen nach dem andern aus. Es iſt zu ver-
muthen, daß ſich derjenige Punkt, welchen wir auf das
allerdeutlichſte ſehen wollen, gegen das Ende der Seh-
achſe zu drehe, wo uͤberhaupt die ſtaͤrkſten und ſenkrechte
Strahlen auf die Nezzhaut fallen (u). Wenn wir uns
ja uͤberreden, viele Dinge und dennoch deutlich zu ſehen
(x), ſo iſt dieſes ein Jrrthum, welcher aus der Dauer
des Eindruks entſtehet, den unſer Auge empfunden hat.
Es vergehet nemlich nicht ploͤzzlich, und ohne einen klei-
nen Zwiſchenraum von Zeit, ſo wie ſich der erblikkte Koͤr-
per entfernt, auch zugleich das Bild deſſelben mit: ſon-
dern es bleibt noch daſſelbe zuruͤkke, und zwar um deſto
laͤnger, je lebhafter es war. Es iſt nichts bekannter als
ein Stab, an deſſen Ende blos die gluͤhende Kohle leuch-
tet (y). Wenn man dieſen Stab etwas ſchneller herum
ſchwingt, ſo ſieht man ſein Bild nicht unter der Geſtalt
eines Stabes, ſondern eines feurigen Kreiſes: welches ein
offenbarer Beweiß iſt, daß der Eindrukk des Stabes
ſo lange fortgedauret habe, bis deſſen Spizze nach Vol-
lendung des Cirkels an eben dem Punkt wieder zuruͤkke
gekommen, aus welchem man ihn das erſtemal erblikkte.
Auf eben dieſe Weiſe machen auch gefaͤrbte Radii, wenn
ſie wie ein Rad umgedrehet werden, einen weiſſen Schein
aus (z). Man hat dieſe Zeit wie lange das Bild dauern
ſoll, auf eine Secunde geſchaͤzzt (a).

Auf ſolche Weiſe ſchwebt uns ein von der Sonne oder
an einem uͤbermaͤßig hellen Koͤrper betrachteter leuchtende

Flek-
(u) [Spaltenumbruch] SCHEINER p. 248. POR-
TERFIELD T. I. p.
103.
(x) SCHEINER p. 244. S’ GRA-
VEZANDE n.
3107.
(y) PLEMP. IV probl. 20. MA-
RIOTTE p. 524 PORTERFIELD
Eſſays T. III. p.
186 & in ſelbigen
[Spaltenumbruch] Diario. II. p. 70. 71. NEWTON
p.
123.
(z) Phil. tranſ. abrigd. by LOW-
THORP T. I. p.
152.
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SCHENBROEK p.
418. Beſiehe
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[971/0989] IV. Abſchnitt. Das Sehen. Es folgt alſo derjenige uͤberhaupt, welcher lieſt, in der Stille mit ſeinem Auge der Reihe der Buchſtaben nach, und ſpricht einen nach dem andern aus. Es iſt zu ver- muthen, daß ſich derjenige Punkt, welchen wir auf das allerdeutlichſte ſehen wollen, gegen das Ende der Seh- achſe zu drehe, wo uͤberhaupt die ſtaͤrkſten und ſenkrechte Strahlen auf die Nezzhaut fallen (u). Wenn wir uns ja uͤberreden, viele Dinge und dennoch deutlich zu ſehen (x), ſo iſt dieſes ein Jrrthum, welcher aus der Dauer des Eindruks entſtehet, den unſer Auge empfunden hat. Es vergehet nemlich nicht ploͤzzlich, und ohne einen klei- nen Zwiſchenraum von Zeit, ſo wie ſich der erblikkte Koͤr- per entfernt, auch zugleich das Bild deſſelben mit: ſon- dern es bleibt noch daſſelbe zuruͤkke, und zwar um deſto laͤnger, je lebhafter es war. Es iſt nichts bekannter als ein Stab, an deſſen Ende blos die gluͤhende Kohle leuch- tet (y). Wenn man dieſen Stab etwas ſchneller herum ſchwingt, ſo ſieht man ſein Bild nicht unter der Geſtalt eines Stabes, ſondern eines feurigen Kreiſes: welches ein offenbarer Beweiß iſt, daß der Eindrukk des Stabes ſo lange fortgedauret habe, bis deſſen Spizze nach Vol- lendung des Cirkels an eben dem Punkt wieder zuruͤkke gekommen, aus welchem man ihn das erſtemal erblikkte. Auf eben dieſe Weiſe machen auch gefaͤrbte Radii, wenn ſie wie ein Rad umgedrehet werden, einen weiſſen Schein aus (z). Man hat dieſe Zeit wie lange das Bild dauern ſoll, auf eine Secunde geſchaͤzzt (a). Auf ſolche Weiſe ſchwebt uns ein von der Sonne oder an einem uͤbermaͤßig hellen Koͤrper betrachteter leuchtende Flek- (u) SCHEINER p. 248. POR- TERFIELD T. I. p. 103. (x) SCHEINER p. 244. S’ GRA- VEZANDE n. 3107. (y) PLEMP. IV probl. 20. MA- RIOTTE p. 524 PORTERFIELD Eſſays T. III. p. 186 & in ſelbigen Diario. II. p. 70. 71. NEWTON p. 123. (z) Phil. tranſ. abrigd. by LOW- THORP T. I. p. 152. (a) NEWTON Quer. 16. MUS- SCHENBROEK p. 418. Beſiehe LOCKE II. c. 14.

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 971. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/989>, abgerufen am 23.11.2024.