Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Abschnitt. Werkzeug.
sein, deren Empfindungskraft zugenommen, allein man
kann nicht sagen, wie diese zunimmt. Als Muthmas-
sungen könnte man dabei, die Aufschwellung, welche
sich den Bebungen entgegen stellet, die Zartheit der
Einhüllungen, welche das entblößte Mark den Stössen
besser unterwirft, und die Spannung, welche durch
Trokkenwerden, und aus andern Krankheiten entsteht,
anzeigen. Es werden nämlich alle Theile des mensch-
lichen Körpers, die man nur schlechthin ausspannt, un-
gemein empfindlich gemacht, wovon man an der Tor-
tur ein bekandtes Exempel hat.

Dahingegen stellet sich oftermals ein schweres Gehör
schon in der Frucht selbst ein, indem viele Kinder ohne Ge-
hör auf die Welt kommen, und aus dieser Ursache auch
stumm sind, weil sie niemals die Reden anderer Men-
schen vernehmen gekonnt (n*). Ausserdem werden alle
Menschen im Alter entweder früher, oder später, schwer-
hörend; und dieses war die einzige Krankheit des be-
rühmten Fontenelle, welcher fast ein Jahrhundert
überlebte, und der französischen Muse Scuderi (o).
Und obgleich bejahrte Personen endlich den Gebrauch
der Augen verliehren, so scheint es mir doch, daß Leute
öfterer, und bei weniger Jahren taub werden. Hier
bleibt uns noch ein ansehnlicher Theil der Medicin un-
bekandt, weil man den gewöhnlichsten Ort, und die
Natur dieser unter allen Krankheiten des Alters gemein-
sten Krankheit nicht kennt. Es erfordert nämlich diese
Untersuchung eine subtile Anatomie, wozu wenig Aerzte
tüchtig sind. Man vermuthet, daß sich die Spiralplat-
te verhärte (p). Doch scheinen alle Nerven callöse zu
werden, indem weder das Gedärme, noch die Harn-
blase den Reiz der Unreinigkeiten eben so wenig empfin-

det
(n*) [Spaltenumbruch] PLIN. L. X. c. 69.
(o) VERDUC. usag. des part.
L. II. p.
195.
(p) [Spaltenumbruch] BUFFON l. c. T. III.
pag.
344.

III. Abſchnitt. Werkzeug.
ſein, deren Empfindungskraft zugenommen, allein man
kann nicht ſagen, wie dieſe zunimmt. Als Muthmaſ-
ſungen koͤnnte man dabei, die Aufſchwellung, welche
ſich den Bebungen entgegen ſtellet, die Zartheit der
Einhuͤllungen, welche das entbloͤßte Mark den Stoͤſſen
beſſer unterwirft, und die Spannung, welche durch
Trokkenwerden, und aus andern Krankheiten entſteht,
anzeigen. Es werden naͤmlich alle Theile des menſch-
lichen Koͤrpers, die man nur ſchlechthin ausſpannt, un-
gemein empfindlich gemacht, wovon man an der Tor-
tur ein bekandtes Exempel hat.

Dahingegen ſtellet ſich oftermals ein ſchweres Gehoͤr
ſchon in der Frucht ſelbſt ein, indem viele Kinder ohne Ge-
hoͤr auf die Welt kommen, und aus dieſer Urſache auch
ſtumm ſind, weil ſie niemals die Reden anderer Men-
ſchen vernehmen gekonnt (n*). Auſſerdem werden alle
Menſchen im Alter entweder fruͤher, oder ſpaͤter, ſchwer-
hoͤrend; und dieſes war die einzige Krankheit des be-
ruͤhmten Fontenelle, welcher faſt ein Jahrhundert
uͤberlebte, und der franzoͤſiſchen Muſe Scuderi (o).
Und obgleich bejahrte Perſonen endlich den Gebrauch
der Augen verliehren, ſo ſcheint es mir doch, daß Leute
oͤfterer, und bei weniger Jahren taub werden. Hier
bleibt uns noch ein anſehnlicher Theil der Medicin un-
bekandt, weil man den gewoͤhnlichſten Ort, und die
Natur dieſer unter allen Krankheiten des Alters gemein-
ſten Krankheit nicht kennt. Es erfordert naͤmlich dieſe
Unterſuchung eine ſubtile Anatomie, wozu wenig Aerzte
tuͤchtig ſind. Man vermuthet, daß ſich die Spiralplat-
te verhaͤrte (p). Doch ſcheinen alle Nerven calloͤſe zu
werden, indem weder das Gedaͤrme, noch die Harn-
blaſe den Reiz der Unreinigkeiten eben ſo wenig empfin-

det
(n*) [Spaltenumbruch] PLIN. L. X. c. 69.
(o) VERDUC. uſag. des part.
L. II. p.
195.
(p) [Spaltenumbruch] BUFFON l. c. T. III.
pag.
344.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0719" n="701"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Ab&#x017F;chnitt. Werkzeug.</fw><lb/>
&#x017F;ein, deren Empfindungskraft zugenommen, allein man<lb/>
kann nicht &#x017F;agen, wie die&#x017F;e zunimmt. Als Muthma&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ungen ko&#x0364;nnte man dabei, die Auf&#x017F;chwellung, welche<lb/>
&#x017F;ich den Bebungen entgegen &#x017F;tellet, die Zartheit der<lb/>
Einhu&#x0364;llungen, welche das entblo&#x0364;ßte Mark den Sto&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er unterwirft, und die Spannung, welche durch<lb/>
Trokkenwerden, und aus andern Krankheiten ent&#x017F;teht,<lb/>
anzeigen. Es werden na&#x0364;mlich alle Theile des men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Ko&#x0364;rpers, die man nur &#x017F;chlechthin aus&#x017F;pannt, un-<lb/>
gemein empfindlich gemacht, wovon man an der Tor-<lb/>
tur ein bekandtes Exempel hat.</p><lb/>
            <p>Dahingegen &#x017F;tellet &#x017F;ich oftermals ein &#x017F;chweres Geho&#x0364;r<lb/>
&#x017F;chon in der Frucht &#x017F;elb&#x017F;t ein, indem viele Kinder ohne Ge-<lb/>
ho&#x0364;r auf die Welt kommen, und aus die&#x017F;er Ur&#x017F;ache auch<lb/>
&#x017F;tumm &#x017F;ind, weil &#x017F;ie niemals die Reden anderer Men-<lb/>
&#x017F;chen vernehmen gekonnt <note place="foot" n="(n*)"><cb/><hi rendition="#aq">PLIN. L. X. c.</hi> 69.</note>. Au&#x017F;&#x017F;erdem werden alle<lb/>
Men&#x017F;chen im Alter entweder fru&#x0364;her, oder &#x017F;pa&#x0364;ter, &#x017F;chwer-<lb/>
ho&#x0364;rend; und die&#x017F;es war die einzige Krankheit des be-<lb/>
ru&#x0364;hmten <hi rendition="#fr">Fontenelle,</hi> welcher fa&#x017F;t ein Jahrhundert<lb/>
u&#x0364;berlebte, und der franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Mu&#x017F;e <hi rendition="#fr">Scuderi</hi> <note place="foot" n="(o)"><hi rendition="#aq">VERDUC. u&#x017F;ag. des part.<lb/>
L. II. p.</hi> 195.</note>.<lb/>
Und obgleich bejahrte Per&#x017F;onen endlich den Gebrauch<lb/>
der Augen verliehren, &#x017F;o &#x017F;cheint es mir doch, daß Leute<lb/>
o&#x0364;fterer, und bei weniger Jahren taub werden. Hier<lb/>
bleibt uns noch ein an&#x017F;ehnlicher Theil der Medicin un-<lb/>
bekandt, weil man den gewo&#x0364;hnlich&#x017F;ten Ort, und die<lb/>
Natur die&#x017F;er unter allen Krankheiten des Alters gemein-<lb/>
&#x017F;ten Krankheit nicht kennt. Es erfordert na&#x0364;mlich die&#x017F;e<lb/>
Unter&#x017F;uchung eine &#x017F;ubtile Anatomie, wozu wenig Aerzte<lb/>
tu&#x0364;chtig &#x017F;ind. Man vermuthet, daß &#x017F;ich die Spiralplat-<lb/>
te verha&#x0364;rte <note place="foot" n="(p)"><cb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">BUFFON</hi> l. c. T. III.<lb/>
pag.</hi> 344.</note>. Doch &#x017F;cheinen alle Nerven callo&#x0364;&#x017F;e zu<lb/>
werden, indem weder das Geda&#x0364;rme, noch die Harn-<lb/>
bla&#x017F;e den Reiz der Unreinigkeiten eben &#x017F;o wenig empfin-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">det</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[701/0719] III. Abſchnitt. Werkzeug. ſein, deren Empfindungskraft zugenommen, allein man kann nicht ſagen, wie dieſe zunimmt. Als Muthmaſ- ſungen koͤnnte man dabei, die Aufſchwellung, welche ſich den Bebungen entgegen ſtellet, die Zartheit der Einhuͤllungen, welche das entbloͤßte Mark den Stoͤſſen beſſer unterwirft, und die Spannung, welche durch Trokkenwerden, und aus andern Krankheiten entſteht, anzeigen. Es werden naͤmlich alle Theile des menſch- lichen Koͤrpers, die man nur ſchlechthin ausſpannt, un- gemein empfindlich gemacht, wovon man an der Tor- tur ein bekandtes Exempel hat. Dahingegen ſtellet ſich oftermals ein ſchweres Gehoͤr ſchon in der Frucht ſelbſt ein, indem viele Kinder ohne Ge- hoͤr auf die Welt kommen, und aus dieſer Urſache auch ſtumm ſind, weil ſie niemals die Reden anderer Men- ſchen vernehmen gekonnt (n*). Auſſerdem werden alle Menſchen im Alter entweder fruͤher, oder ſpaͤter, ſchwer- hoͤrend; und dieſes war die einzige Krankheit des be- ruͤhmten Fontenelle, welcher faſt ein Jahrhundert uͤberlebte, und der franzoͤſiſchen Muſe Scuderi (o). Und obgleich bejahrte Perſonen endlich den Gebrauch der Augen verliehren, ſo ſcheint es mir doch, daß Leute oͤfterer, und bei weniger Jahren taub werden. Hier bleibt uns noch ein anſehnlicher Theil der Medicin un- bekandt, weil man den gewoͤhnlichſten Ort, und die Natur dieſer unter allen Krankheiten des Alters gemein- ſten Krankheit nicht kennt. Es erfordert naͤmlich dieſe Unterſuchung eine ſubtile Anatomie, wozu wenig Aerzte tuͤchtig ſind. Man vermuthet, daß ſich die Spiralplat- te verhaͤrte (p). Doch ſcheinen alle Nerven calloͤſe zu werden, indem weder das Gedaͤrme, noch die Harn- blaſe den Reiz der Unreinigkeiten eben ſo wenig empfin- det (n*) PLIN. L. X. c. 69. (o) VERDUC. uſag. des part. L. II. p. 195. (p) BUFFON l. c. T. III. pag. 344.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/719
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 701. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/719>, abgerufen am 21.06.2024.