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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

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III. Abschnitt. Ursachen.
Mutter nach, und saugt an den Eitern. Die Biene,
diese künstliche Bearbeiterin des Wachses und des Honigs,
wird kaum aus einer Made zur Fliege, als sie schon mit
allen vereinigten Kräften ihres kleinen Leibes Wachs und
Honig zu sammeln weis, und ein so schweres Problem
aufzulösen versteht, wie nämlich der stumfe Winkel des
Dekkels so beschaffen sein müsse, um das Zellgen an der
Wachstafel mit dem kleinsten Aufwande Wachs zu versie-
geln (b*). Die Seele eines Schmetterlings, welche in
der ehemaligen Raupe andre Gliedmaßen hatte, versteht,
so bald sie aus der Puppenhülse gekrochen, die Flügel zu
entwikkeln, und die ihr unbekannte Luft zu durchstreichen.
Der ohnlängst geborne Polipus fängt sich Wasserwürmer-
gen, und er bezeugt sich nicht träger, als seine Mutter,
aus deren Seite er vor kurzem hervorwuchs. Die Vögel
stimmen, einer leichter, als der andre, den gehörten Ge-
sang an, um denselben vermittelst ihrer Werkzeuge nach-
zuamen. Selbst das neugeborne Kind weinet, sauget,
und schlingt die Milch hernieder. Es weis sich einer
Menge Muskeln, die sich wärend dem Einatmen verei-
nigen, und die es nie vorher versucht, dergestalt zu gebrau-
chen, daß die niemals gekostete und begerte Milch, wenn
es die Warze der Brust niederdrükkt, in den Magen
fliessen kann. Eben dieses Kind versteht zu weinen, und
eine Stimme von sich zu geben, wenn es noch in der
Mutterscheide halb lebendig stekkt, es müssen aber unzä-
liche Muskeln zusammen treten, um das Kindergeschrei
hervorzubringen. Endlich entstehen diese Bewegungen
in den Pflanzen, welche zur Absonderung der Säfte, zur
Ernährung, Wachstum, zur Fortpflanzung ihrer Art,
nötig sind, oder auch diejenige Bewegungen, vermittelst
deren einige Pflanzen das Licht fliehen, oder suchen;
ferner die Bewegungen, welche offenbar den Reiz nicht

ver-
(b*) [Spaltenumbruch] REAUMUR.
H. Phisiol. 5. B. N

III. Abſchnitt. Urſachen.
Mutter nach, und ſaugt an den Eitern. Die Biene,
dieſe kuͤnſtliche Bearbeiterin des Wachſes und des Honigs,
wird kaum aus einer Made zur Fliege, als ſie ſchon mit
allen vereinigten Kraͤften ihres kleinen Leibes Wachs und
Honig zu ſammeln weis, und ein ſo ſchweres Problem
aufzuloͤſen verſteht, wie naͤmlich der ſtumfe Winkel des
Dekkels ſo beſchaffen ſein muͤſſe, um das Zellgen an der
Wachstafel mit dem kleinſten Aufwande Wachs zu verſie-
geln (b*). Die Seele eines Schmetterlings, welche in
der ehemaligen Raupe andre Gliedmaßen hatte, verſteht,
ſo bald ſie aus der Puppenhuͤlſe gekrochen, die Fluͤgel zu
entwikkeln, und die ihr unbekannte Luft zu durchſtreichen.
Der ohnlaͤngſt geborne Polipus faͤngt ſich Waſſerwuͤrmer-
gen, und er bezeugt ſich nicht traͤger, als ſeine Mutter,
aus deren Seite er vor kurzem hervorwuchs. Die Voͤgel
ſtimmen, einer leichter, als der andre, den gehoͤrten Ge-
ſang an, um denſelben vermittelſt ihrer Werkzeuge nach-
zuamen. Selbſt das neugeborne Kind weinet, ſauget,
und ſchlingt die Milch hernieder. Es weis ſich einer
Menge Muſkeln, die ſich waͤrend dem Einatmen verei-
nigen, und die es nie vorher verſucht, dergeſtalt zu gebrau-
chen, daß die niemals gekoſtete und begerte Milch, wenn
es die Warze der Bruſt niederdruͤkkt, in den Magen
flieſſen kann. Eben dieſes Kind verſteht zu weinen, und
eine Stimme von ſich zu geben, wenn es noch in der
Mutterſcheide halb lebendig ſtekkt, es muͤſſen aber unzaͤ-
liche Muſkeln zuſammen treten, um das Kindergeſchrei
hervorzubringen. Endlich entſtehen dieſe Bewegungen
in den Pflanzen, welche zur Abſonderung der Saͤfte, zur
Ernaͤhrung, Wachstum, zur Fortpflanzung ihrer Art,
noͤtig ſind, oder auch diejenige Bewegungen, vermittelſt
deren einige Pflanzen das Licht fliehen, oder ſuchen;
ferner die Bewegungen, welche offenbar den Reiz nicht

ver-
(b*) [Spaltenumbruch] REAUMUR.
H. Phiſiol. 5. B. N
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[193/0211] III. Abſchnitt. Urſachen. Mutter nach, und ſaugt an den Eitern. Die Biene, dieſe kuͤnſtliche Bearbeiterin des Wachſes und des Honigs, wird kaum aus einer Made zur Fliege, als ſie ſchon mit allen vereinigten Kraͤften ihres kleinen Leibes Wachs und Honig zu ſammeln weis, und ein ſo ſchweres Problem aufzuloͤſen verſteht, wie naͤmlich der ſtumfe Winkel des Dekkels ſo beſchaffen ſein muͤſſe, um das Zellgen an der Wachstafel mit dem kleinſten Aufwande Wachs zu verſie- geln (b*). Die Seele eines Schmetterlings, welche in der ehemaligen Raupe andre Gliedmaßen hatte, verſteht, ſo bald ſie aus der Puppenhuͤlſe gekrochen, die Fluͤgel zu entwikkeln, und die ihr unbekannte Luft zu durchſtreichen. Der ohnlaͤngſt geborne Polipus faͤngt ſich Waſſerwuͤrmer- gen, und er bezeugt ſich nicht traͤger, als ſeine Mutter, aus deren Seite er vor kurzem hervorwuchs. Die Voͤgel ſtimmen, einer leichter, als der andre, den gehoͤrten Ge- ſang an, um denſelben vermittelſt ihrer Werkzeuge nach- zuamen. Selbſt das neugeborne Kind weinet, ſauget, und ſchlingt die Milch hernieder. Es weis ſich einer Menge Muſkeln, die ſich waͤrend dem Einatmen verei- nigen, und die es nie vorher verſucht, dergeſtalt zu gebrau- chen, daß die niemals gekoſtete und begerte Milch, wenn es die Warze der Bruſt niederdruͤkkt, in den Magen flieſſen kann. Eben dieſes Kind verſteht zu weinen, und eine Stimme von ſich zu geben, wenn es noch in der Mutterſcheide halb lebendig ſtekkt, es muͤſſen aber unzaͤ- liche Muſkeln zuſammen treten, um das Kindergeſchrei hervorzubringen. Endlich entſtehen dieſe Bewegungen in den Pflanzen, welche zur Abſonderung der Saͤfte, zur Ernaͤhrung, Wachstum, zur Fortpflanzung ihrer Art, noͤtig ſind, oder auch diejenige Bewegungen, vermittelſt deren einige Pflanzen das Licht fliehen, oder ſuchen; ferner die Bewegungen, welche offenbar den Reiz nicht ver- (b*) REAUMUR. H. Phiſiol. 5. B. N

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Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/211>, abgerufen am 25.11.2024.