Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

Thierische Bewegung. XI. Buch.
Gleichgewichte so vieler Muskeln am ganzen Körper, und
das Ausstrekken oder Beugen so vieler Gliedmaßen, zu
dem bestimmten Endzwekke abgewogen wird.

Es müste die Seele von allen dem Willen unterwor-
fenen Werkzeugen eine Landkarte vor Augen, und auf das
allergegenwärtigste vor sich haben, um nach selbiger besser,
als auf dem albinischen Kupfer, die helfende, thätige,
lenkende, beitretende, und übrige Muskeln, zu der bestim-
ten Bewegung anzustrengen. Allein, wir kennen diese
Karte so wenig, daß wir nicht einmal im Schmerzen die
rechte Stelle genau treffen können.

Jch übergehe, daß, nach der Theorie unsrer Gegner,
auch die dem Willen nicht unterworfne Werkzeuge (a)
ebenfalls von dem Winke der Seelen regiert werden, und
daß alle Gefässe, durch den motus tonicus, den andre
Neuere die Schwingungskraft des Lebens (oscillatorius
vitali,
) nennen, bald nachgelassen, bald verengert werden,
damit die besondre und rechtmäßige Geschwindigkeit in dem
Umlaufe der Säfte erhalten werden möge.

Es mus uns diese unendliche Menge Jdeen so wenig
zur Last fallen, daß wir sie als gegenwärtig empfinden und
regieren, ob wir gleich nicht einmal wissen, daß wir eine
so grosse Beschwerlichkeit zu ertragen haben, und zu den
feinsten Betrachtungen vollkommen geschikkt sind, welche
dennoch von den geringsten Störungen der Sinne so
leicht aus ihrer Sphäre gebracht werden; welches aber
alles wider die Erfarung läuft. --

Gewonheit erwirbt Fertigkeiten: wir haben durch
Fallen springen gelernt. Dieses aber verhält sich nicht
so (b). Es haben Thiere, welche überhaupt härtere
Knochen besizzen, wenn sie an des Tages Licht gebracht
werden, nichts gelernt, nichts versucht, und dennoch läuft
das Lamm, wenn es die Gebärmutter verläst, es folgt der

Mutter
(a) [Spaltenumbruch] pag. 518. seqq.
(b) [Spaltenumbruch] pag. 527.

Thieriſche Bewegung. XI. Buch.
Gleichgewichte ſo vieler Muſkeln am ganzen Koͤrper, und
das Ausſtrekken oder Beugen ſo vieler Gliedmaßen, zu
dem beſtimmten Endzwekke abgewogen wird.

Es muͤſte die Seele von allen dem Willen unterwor-
fenen Werkzeugen eine Landkarte vor Augen, und auf das
allergegenwaͤrtigſte vor ſich haben, um nach ſelbiger beſſer,
als auf dem albiniſchen Kupfer, die helfende, thaͤtige,
lenkende, beitretende, und uͤbrige Muſkeln, zu der beſtim-
ten Bewegung anzuſtrengen. Allein, wir kennen dieſe
Karte ſo wenig, daß wir nicht einmal im Schmerzen die
rechte Stelle genau treffen koͤnnen.

Jch uͤbergehe, daß, nach der Theorie unſrer Gegner,
auch die dem Willen nicht unterworfne Werkzeuge (a)
ebenfalls von dem Winke der Seelen regiert werden, und
daß alle Gefaͤſſe, durch den motus tonicus, den andre
Neuere die Schwingungskraft des Lebens (oſcillatorius
vitali,
) nennen, bald nachgelaſſen, bald verengert werden,
damit die beſondre und rechtmaͤßige Geſchwindigkeit in dem
Umlaufe der Saͤfte erhalten werden moͤge.

Es mus uns dieſe unendliche Menge Jdeen ſo wenig
zur Laſt fallen, daß wir ſie als gegenwaͤrtig empfinden und
regieren, ob wir gleich nicht einmal wiſſen, daß wir eine
ſo groſſe Beſchwerlichkeit zu ertragen haben, und zu den
feinſten Betrachtungen vollkommen geſchikkt ſind, welche
dennoch von den geringſten Stoͤrungen der Sinne ſo
leicht aus ihrer Sphaͤre gebracht werden; welches aber
alles wider die Erfarung laͤuft. —

Gewonheit erwirbt Fertigkeiten: wir haben durch
Fallen ſpringen gelernt. Dieſes aber verhaͤlt ſich nicht
ſo (b). Es haben Thiere, welche uͤberhaupt haͤrtere
Knochen beſizzen, wenn ſie an des Tages Licht gebracht
werden, nichts gelernt, nichts verſucht, und dennoch laͤuft
das Lamm, wenn es die Gebaͤrmutter verlaͤſt, es folgt der

Mutter
(a) [Spaltenumbruch] pag. 518. ſeqq.
(b) [Spaltenumbruch] pag. 527.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0210" n="192"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Thieri&#x017F;che Bewegung. <hi rendition="#aq">XI.</hi> Buch.</hi></fw><lb/>
Gleichgewichte &#x017F;o vieler Mu&#x017F;keln am ganzen Ko&#x0364;rper, und<lb/>
das Aus&#x017F;trekken oder Beugen &#x017F;o vieler Gliedmaßen, zu<lb/>
dem be&#x017F;timmten Endzwekke abgewogen wird.</p><lb/>
          <p>Es mu&#x0364;&#x017F;te die Seele von allen dem Willen unterwor-<lb/>
fenen Werkzeugen eine Landkarte vor Augen, und auf das<lb/>
allergegenwa&#x0364;rtig&#x017F;te vor &#x017F;ich haben, um nach &#x017F;elbiger be&#x017F;&#x017F;er,<lb/>
als auf dem <hi rendition="#fr">albini&#x017F;chen</hi> Kupfer, die helfende, tha&#x0364;tige,<lb/>
lenkende, beitretende, und u&#x0364;brige Mu&#x017F;keln, zu der be&#x017F;tim-<lb/>
ten Bewegung anzu&#x017F;trengen. Allein, wir kennen die&#x017F;e<lb/>
Karte &#x017F;o wenig, daß wir nicht einmal im Schmerzen die<lb/>
rechte Stelle genau treffen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p>Jch u&#x0364;bergehe, daß, nach der Theorie un&#x017F;rer Gegner,<lb/>
auch die dem Willen nicht unterworfne Werkzeuge <note place="foot" n="(a)"><cb/><hi rendition="#aq">pag. 518. &#x017F;eqq.</hi></note><lb/>
ebenfalls von dem Winke der Seelen regiert werden, und<lb/>
daß alle Gefa&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, durch den <hi rendition="#aq">motus tonicus,</hi> den andre<lb/>
Neuere die Schwingungskraft des Lebens (<hi rendition="#aq">o&#x017F;cillatorius<lb/>
vitali,</hi>) nennen, bald nachgela&#x017F;&#x017F;en, bald verengert werden,<lb/>
damit die be&#x017F;ondre und rechtma&#x0364;ßige Ge&#x017F;chwindigkeit in dem<lb/>
Umlaufe der Sa&#x0364;fte erhalten werden mo&#x0364;ge.</p><lb/>
          <p>Es mus uns die&#x017F;e unendliche Menge Jdeen &#x017F;o wenig<lb/>
zur La&#x017F;t fallen, daß wir &#x017F;ie als gegenwa&#x0364;rtig empfinden und<lb/>
regieren, ob wir gleich nicht einmal wi&#x017F;&#x017F;en, daß wir eine<lb/>
&#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;e Be&#x017F;chwerlichkeit zu ertragen haben, und zu den<lb/>
fein&#x017F;ten Betrachtungen vollkommen ge&#x017F;chikkt &#x017F;ind, welche<lb/>
dennoch von den gering&#x017F;ten Sto&#x0364;rungen der Sinne &#x017F;o<lb/>
leicht aus ihrer Spha&#x0364;re gebracht werden; welches aber<lb/>
alles wider die Erfarung la&#x0364;uft. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Gewonheit erwirbt Fertigkeiten: wir haben durch<lb/>
Fallen &#x017F;pringen gelernt. Die&#x017F;es aber verha&#x0364;lt &#x017F;ich nicht<lb/>
&#x017F;o <note place="foot" n="(b)"><cb/><hi rendition="#aq">pag.</hi> 527.</note>. Es haben Thiere, welche u&#x0364;berhaupt ha&#x0364;rtere<lb/>
Knochen be&#x017F;izzen, wenn &#x017F;ie an des Tages Licht gebracht<lb/>
werden, nichts gelernt, nichts ver&#x017F;ucht, und dennoch la&#x0364;uft<lb/>
das Lamm, wenn es die Geba&#x0364;rmutter verla&#x0364;&#x017F;t, es folgt der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Mutter</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0210] Thieriſche Bewegung. XI. Buch. Gleichgewichte ſo vieler Muſkeln am ganzen Koͤrper, und das Ausſtrekken oder Beugen ſo vieler Gliedmaßen, zu dem beſtimmten Endzwekke abgewogen wird. Es muͤſte die Seele von allen dem Willen unterwor- fenen Werkzeugen eine Landkarte vor Augen, und auf das allergegenwaͤrtigſte vor ſich haben, um nach ſelbiger beſſer, als auf dem albiniſchen Kupfer, die helfende, thaͤtige, lenkende, beitretende, und uͤbrige Muſkeln, zu der beſtim- ten Bewegung anzuſtrengen. Allein, wir kennen dieſe Karte ſo wenig, daß wir nicht einmal im Schmerzen die rechte Stelle genau treffen koͤnnen. Jch uͤbergehe, daß, nach der Theorie unſrer Gegner, auch die dem Willen nicht unterworfne Werkzeuge (a) ebenfalls von dem Winke der Seelen regiert werden, und daß alle Gefaͤſſe, durch den motus tonicus, den andre Neuere die Schwingungskraft des Lebens (oſcillatorius vitali,) nennen, bald nachgelaſſen, bald verengert werden, damit die beſondre und rechtmaͤßige Geſchwindigkeit in dem Umlaufe der Saͤfte erhalten werden moͤge. Es mus uns dieſe unendliche Menge Jdeen ſo wenig zur Laſt fallen, daß wir ſie als gegenwaͤrtig empfinden und regieren, ob wir gleich nicht einmal wiſſen, daß wir eine ſo groſſe Beſchwerlichkeit zu ertragen haben, und zu den feinſten Betrachtungen vollkommen geſchikkt ſind, welche dennoch von den geringſten Stoͤrungen der Sinne ſo leicht aus ihrer Sphaͤre gebracht werden; welches aber alles wider die Erfarung laͤuft. — Gewonheit erwirbt Fertigkeiten: wir haben durch Fallen ſpringen gelernt. Dieſes aber verhaͤlt ſich nicht ſo (b). Es haben Thiere, welche uͤberhaupt haͤrtere Knochen beſizzen, wenn ſie an des Tages Licht gebracht werden, nichts gelernt, nichts verſucht, und dennoch laͤuft das Lamm, wenn es die Gebaͤrmutter verlaͤſt, es folgt der Mutter (a) pag. 518. ſeqq. (b) pag. 527.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/210
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/210>, abgerufen am 25.11.2024.